Die aufmerksame Harzerin

- Anja Mertelsmann

Die Hortensien und Hortensen, die Nachfahren der Nonnen und Stiftsdamen des Kloster Neuwerks: sie alle möchte ich hier vorstellen, porträtieren, nicht nur weil sie es verdienen und das Stipendium Novum Opus überhaupt möglich gemacht und erweckt haben. Auch weil sie Menschen sind, die Goslar alle auf ihre Weise prägen und von denen es viel zu erfahren gibt. Heute Vorstandsmitglied Anja Mertelsmann, von Anbeginn dabei.

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Geschrieben von Marie-Luise Eberhardt

„Die Wiedervereinigung Deutschlands ist das wichtigste geschichtliche Ereignis in meinem bisherigen Leben.“ - Anja Mertelsmann

Es ist Samstagmorgen Ende Oktober. Anja wartet auf dem Parkplatz in der Rosentorstraße und nimmt mich mit an einen ihr wichtigen Ort, den Brocken – ihr Symbol der Wiedervereinigung. Schließlich war dieser Berg vor 1989 abgesperrt und nicht begehbar. Bereits im Auto knüpfen wir an das Gespräch vor zwei Tagen im Kulturmarktplatz Goslars anlässlich meiner LiveFeatureTour geTEILt an. Anja ist ein Mensch, der gern zuhört und so hat sie auch Anfang der 90er Jahre unterschiedlichen Menschen zugehört, die ihr während des Jura-Referendariats damals beim Verband der Ernäherungswirtschaft in Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt begegnet sind. Aber dazu kommen wir noch ausführlicher.

Mich erschrecken erst einmal die toten Fichten, die wir nun auf dem Weg zum Bahnhof Drei Annen Hohne sehen. Wir fahren von dort mit der Schmalspurbahn, die krache voll ist. Noch nie bin ich mit dieser Bahn unterwegs gewesen, etwas ganz Besonderes! Während Anja es sich auf einer der Bänke im Waggon bequem macht, stehe ich draußen und erlebe das Naturspektakel samt Rauch. Es wirkt so endzeitlich, dieses tote Holz, wie Streichhölzer. Drinnen im Wagon erzählt mir Anja, dass sie mittlerweile nicht mehr so schockiert von diesem Anblick ist, schließlich gelangt so wieder viel Licht durch die sonst dunkle Waldfläche. Neues Leben wie die ersten Birken und Sträucher gibt es auch schon zu betrachten. Ich muss sagen, sie hat Recht, die Natur wird wiederkehren und die Monokulturlandschaft aufbrechen, keine Frage. Aber es dauert.

Wir kommen am Gipfelbahnhof an und laufen umher. Es weht ein frischer Wind, aber zum Glück sind die milden Oktobertemperaturen auch hier oben zu spüren und für die 1.141 Meter ist es nicht kalt. Anja erzählt mir von den verschiedenen Wanderwegen zum Brocken und davon, wie schön es ist, hier den Sonnenaufgang zu erleben. Sie wandert sehr gern in ihrer Freizeit. Langsam beginnen wir unseren Weg bergab. Die geteerte Straße ist voller Menschen, auch Radfahrende unter ihnen. Langsam verschafft sich auch die Sonne ihren Weg durch die Wolken und wir setzen uns nach einer Weile auf eine Bank und erzählen munter weiter.

Anja ist in der Kleinstadt Melle im Landkreis Osnabrück geboren und nur drei Häuser von der Kirche entfernt aufgewachsen. Schon als Kind ist sie einfach sonntags in die Kirche zum Kindergottesdienst gegangen. Sie schwärmt freudestrahlend von der Gemeinde und vor allem dem damaligen Pastor, der gerade den Kindern und Jugendlichen viel Verständnis und Vertrauen entgegenbrachte. „Er war so eine herausragende Persönlichkeit für den nicht der Glaube, sondern der Mensch im Vordergrund stand. Ich sehe ihn heute noch über den Gemeindehof laufen, das kleine Kind, einer alleinerziehenden jungen Mutter auf seinen Fuß stehend und an seinem Bein festhaltend. Er war für seine Gemeindemitglieder immer da. Sie konnten jederzeit klingeln. 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Und fanden ein offenes Ohr bei einem Glas Wein oder einem Tee und wenn ihm möglich auch Hilfe.“

Solche Taten sind das, was Kirche für Anja ausmacht:

„Menschlich zu sein, füreinander da zu sein, aufzufangen, Hilfestellung zu geben.“

Dieser Zusammenhalt hat sie geprägt. Gemeinsam mit dem Diakon hatte besagter Pastor die Jugendarbeit ausgebaut und die Jugendlichen konnten sich einbringen, verschiedene Projekte verwirklichen und Verantwortung übernehmen. So hatten sie beispielsweise gemeinsam in der Gruppe das Gemeindehaus ausgebaut und dafür auch Fördermittel beantragt.

Sie wünscht sich, dass es auch heute wieder mehr solche hervorragende Jugendarbeit gibt, um Kindern und Jugendlichen Anlaufstellen außerhalb des Elternhauses zu ermöglichen und sie nicht der Straße zu überlassen. Unabhängig davon, dass Anja sehr behütet aufgewachsen ist und immer jemand zu Hause war, empfand sie es als Bereicherung mit Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, Projekte umzusetzen und erste Verantwortung zu übernehmen.

Immer mehr Erinnerungen kommen hoch und Anja berichtet mir, dass es eine prägende Zeit war, die sie auch heute noch mit ihren Freunden aus der Jugendzeit verbindet. Zu einigen hat sie immer noch Kontakt. „Du siehst an meinem Strahlen, wie schön es ist, solche Erinnerungen zu haben und an diese Menschen zurückzudenken.“

Anja holt zur Feier des Tages zwei Einweg-Sektgläser aus ihrem Rucksack und schenkt uns Rotkäppchen Sekt ein. Das Sprudeln ist gut zu hören und die Sonne scheint weiter.

Wie ihr älterer Bruder hat sie nach dem Abitur Jura studiert, aber nicht wie er einige Jahre vor ihr in Marburg, sondern in Bayreuth. Auch wenn es für ihre Eltern nicht leicht gewesen ist, ihr Nesthäkchen weit entfernt zu wissen, hätten sie ihre Tochter nie daran gehindert. Denn eine gute Ausbildung war das Wichtigste, was Anjas Eltern ihren Kindern mitgeben wollten. Auch eine befreundete Nachbarin hat ihr immer gesagt „Die können dir alles nehmen, aber nicht deinen Verstand und das Wissen, was du dir angeeignet hast.“

Anja besuchte in Bayreuth auch Vorlesungen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und unter ihrem Freundeskreis waren auch einige Betriebs- und Volkswirte. Ihr erstes Staatsexamen absolvierte sie dann auch im Fach Wirtschaftsrecht.

Beim Verband der Ernäherungswirtschaft in Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt machte sie schließlich ihr Referendariat im Bereich Arbeitsrecht, was auch ihre Wahl für das zweite Staatsexamen war. „Das war toll. Die Menschen in den Unternehmen haben mich so offen aufgenommen, das war kurz nach der Wende. Es war eine wunderbare Aufbruchsstimmung.“ Für das zweite Staatsexamen musste Anja zurück nach Oberfranken. Einige Zeit später kam ein Freund zu ihr und meinte: „Du, im Amtsgericht hängt eine Stelle aus für den Arbeitgeberverband im Harz.“ Davon hatte sie noch nie gehört. Zu gern wollte Anja bei einem Arbeitgeberverband arbeiten, sie bewarb sich und wurde eingeladen. Drei Tage nach dem Bewerbungsgespräch wurde sie angerufen und eingestellt. Erstmal musste sie aber noch ihr letztes Staatsexamen absolvieren. Aber dann ging es für sie beglückt nach Goslar. „Einen Job auch noch in einem Arbeitgeberverband, den ich grandios fand und der mir richtig Spaß machte, zu finden, war damals nicht selbstverständlich. Ja, und diesen Spaß habe ich mir erhalten.“ Mit über 400 Mitgliedern vertritt der Allgemeine Arbeitgeberverband Harz e.V. (AGV) regional und branchenübergreifend die Interessen der Unternehmen in der Harzregion.

„Ich lerne jeden Tag etwas dazu und was ich am Anfang von meinen gestandenen Personalleitern gelernt habe, unglaublich. Nicht juristisch, aber im Umgang mit den Menschen und wie man etwas umsetzt und so weiter und so fort. Das war sehr wertvoll. Und dieses offene Ohr muss man versuchen, sich zu erhalten.“ Mittlerweile ist Anja nicht nur Geschäftsführerin, sondern auch als Mediatorin tätig. Die Arbeit mit jungen Menschen gefällt ihr besonders. „Wir haben bei uns viele junge Frauen und Männer, sie nennen sich junge Köpfe, die sind mittlerweile auch schon in Führungspositionen sind. Zu sehen, wie sie sich entwickeln und sie auf diesem Weg begleiten zu dürfen, ist ein Geschenk und macht mir richtig Spaß.“ Kein Wunder, dass es Anja nie zu neuen Ufern führte, sie ist nach wie vor mit Leib und Seele dabei. Ich frage sie, wie ihre Arbeit sie geprägt hat. „Ich glaube, ich bin auch privat sehr strukturiert, was meinem Umfeld manchmal zu viel sein kann (lacht). Das Zuhören meine ich, ist eher von meinem Privatleben ins Berufliche übergegangen. Aber ich kann das sowieso nicht trennen, weil ich mich sehr mit dem, was ich beruflich tue, identifiziere.“

Wie Anja auf das Fach Jura gekommen ist, weiß sie nicht mehr genau, jedenfalls ging es ihr dabei nicht um das Verteidigen von Gerechtigkeit. Zum Glück, meint sie, denn da wäre sie ganz schön enttäuscht worden.

„Wir Juristen sagen immer, bei Gericht und auf hoher See ist immer alles möglich. Das ist immer Auslegungsfrage. Noch so ein Juristenjargon ist: Recht haben und Recht bekommen, sind zweierlei Paar Schuh.“

Privat ist Anjas Handeln und Entscheiden auch vom Glauben geprägt. Ihren Glauben hat sie ihr ganzes Leben lang nicht verloren, im Gegensatz zu der Zugehörigkeit zur Gemeinde und der Institution Kirche. Denn seit dem Studium hatte sie die Erinnerungen und bestehenden Kontakte aus ihrer Gemeindezeit in Melle im Gepäck und suchte nicht nach einer neuen. Erst Pfarrer Werner Böse brachte sie in Goslar zurück zur Gemeinde.

„Irgendwann klingelte bei uns im Büro das Telefon, meine Sekretärin ging ran und meinte, da ist ein Pfarrer dran. Pfarrer Böse, der möchte sie mal sprechen. Wir hatten bei uns einen Arbeitskreis Kirche und Wirtschaft im Verband und da dachte ich, vielleicht möchte er da mitmachen. Der wollte aber etwas ganz anderes, er war nämlich von Doro Prüssner auf mich aufmerksam gemacht worden. `Sie meinte, sie wären auch gut bei uns in der Stiftung Maria in horto.` Darüber habe ich erstmal nachgedacht, aber ihm konnte man einfach nichts abschlagen. (Lacht) Er war sehr überzeugend in seiner Begeisterung.“ So wurde Anja Mitglied der Stiftung Maria in horto, ihrem Bindeglied zur Institution Kirche. Die neuen Kontakte taten ihr gut und ließen sie nochmal auf andere Weise in der Stadt ankommen. Nonne zu werden, kam ihr allerdings nie in den Sinn. „Dafür wäre mein Glaube nicht tief genug und ich neige auch nicht zur Selbstaufgabe, von daher.“ Pfarrer Werner Böse scheint für sie immer noch allgegenwärtig und begleitet die Stiftungsmitglieder. „Wir erinnern uns an viele fröhliche Begegnungen und auch denkwürde Erlebnisse mit Werner und dann müssen wir lächeln. Er hätte dich sehr gemocht und wäre wahrscheinlich jeden Tag bei dir gewesen.“, erzählt sie mit strahlendem Gesicht.

Menschen und ihre Biografien interessieren Anja schon lange. Früher hat sie besonders viele Biografien gelesen, auch heute mag sie diese noch. Manchmal begibt sie sich dann sogar auf die Spuren dieser Persönlichkeiten. Wie bei Clara von Arnim und ihrem biografisch geprägten Buch „Das bunte Band des Lebens“, was in der Umgebung von Neuruppin spielt. „Ich habe heute meistens, wenn ich abends nach Hause komme, nicht mehr den Kopf dafür frei, etwas Anspruchsvolles zu lesen. Weil ich bei der Arbeit sehr viel Fachliteratur lese und man wird auch so mit E-Mails überhäuft, so empfinde ich das jedenfalls. Dann lese ich einfach gerne regionale Krimis, die ich früher nie gemacht habe, aber das ist so ganz schön und das kann ich schnell weg lesen. Und dann hoffe ich auf einen Strandkorburlaub, wo ich eine Woche am Stück Bücher lese. Verschenkt habe ich gerade die Reiseberichte von Elke Heidenreich. Aber ich habe auch sowas Skurriles gelesen wie Walter Kempowski und Robert Gernhardt.“, berichtet sie mir.

Es laufen wieder Menschen an uns vorbei, wir grüßen und ich beende die Aufnahme. Aber unser Gespräch auf der Bank in der Sonne geht munter weiter und so schalte ich mein Aufnahmegerät wieder ein, denn Anja kommt auf den Brocken - ihr Symbol der Wiedervereinigung - zu sprechen. Ich erinnere mich auch noch genau wie wir zusammen im September vor der Kaiserpfalz standen und ich zum ersten Mal das Videomapping sah. Bei der Stelle, wo die Trabis durch das Breite Tor brausen, bekommt Anja jedes Mal Gänsehaut.

„Die Wiedervereinigung Deutschlands ist das wichtigste geschichtliche Ereignis in meinem bisherigen Leben.

Es war so grandios, das miterleben zu können - Bayreuth war grenznah. Was mich heute immer noch ärgert, dass ich an dem 09. November 1989 normalerweise in Berlin gewesen wäre, weil wir zu Freunden nach Berlin fahren wollten. Und ich habe gesagt: nein, ich muss ins Examen und ich muss noch so viel lernen. Ich kann da jetzt nicht mitfahren. Als ob ich an diesem Wochenende gelernt hätte. Ich habe in der Bibliothek gesessen und eine Freundin kam und meinte, die ganze Stadt ist voller Trabis und Wartburgs - wir müssen hin. Und wir sind natürlich in die Stadt gegangen. Es war ein große Feier, beeindruckend und schön.“ Die meiste Gänsehaut bekommt Anja aber, allein wenn sie an Genschers Worte auf dem Balkon der Prager Botschaft denkt, die in den Jubel der Menge untergehen. „Ich wollte nie wieder über eine innerdeutsche Grenze fahren müssen und meinen Pass zur Kontrolle abgeben. Ich wollte auch nicht, dass Menschen an dieser Grenze erschossen werden und nur weil sie ihre Meinung sagen oder einen Ausreiseantrag stellen, eingesperrt werden.“

Wir sprechen nun eine Weile über das Thema, was mich als 1989 in Weimar Geborene seit einigen Jahren beschäftigt. Wir teilen nicht in allem eine Meinung und haben natürlich auch verschiedene Blickwinkel, aber das macht einen demokratischen Austausch ja aus!

„Ich weiß, dass es auf allen Seiten Verlierer und Gewinner gab, ohne Frage, aber ich glaube, am Ende des Tages haben alle gewonnen und außerdem können wir pro und contra gar nicht gegeneinander aufrechnen, wenn es um Werte wie Freiheit geht.“ Wohl denkt Anja aber auch an die Menschen aus der DDR, die eine gebrochene Biografie haben und knüpft an mein Audio-Feature geTEILt an. „Was ich am schlimmsten finde, ist, dass ihnen vermittelt wird, dass, das, was sie 40 Jahre geprägt hat, nichts taugt und alles falsch war. Dabei haben die meisten ja gut gelebt, sich sicher gefühlt und der Zusammenhalt war sehr groß, wesentlich größer als im Westen. Das merke ich heute noch. Und wie hätten wir darauf reagiert, wenn man uns gesagt hätte, es ist falsch, wie ihr gelebt habt.“ Ihr geht es um die Bewertung des Systems DDR, nicht um die Bewertung der Menschen, die dort gelebt haben. „Ich wäre auch kein Held gewesen und hätte mich aufgelehnt.“, meint sie. Anja glaubt aber auch, dass Menschen generell selbst ihre Arbeit, ihr Leben, das, was sie geleistet haben, wertschätzen müssen, damit auch andere dies anerkennen. „Das heißt nicht, dass man jetzt raus geht und sagt, alles war wunderbar, sondern stolz auf das individuell Geleistete ist und dies auch zum Ausdruck bringt.“

Anja sieht sich jedenfalls als Harzerin und nicht als Westdeutsche und ist ganz gespannt am Montag ihre Sekretärinnen zu fragen, ob diese sich denn als Ostdeutsche bezeichnen würden. Das Thema findet sie jedenfalls sehr spannend und wir führen unser Gespräch im Laufen fort.

Schließlich haben wir noch einige Kilometer Weg vor uns und die Sonne hat uns unbemerkt erschöpft. Wir laufen durch die Streichholzwälder immer weiter, haben aber dann doch Hunger und finden eine Bank zum üppigen Picknick. Anja hat sogar eine kleine Tischdecke mit und tafelt allerlei Käse, Brötchen, Weintrauben, Kekse und Paprika auf. Ich habe noch ein Reformationsbrötchen und Eisenbahnschien im Angebot. Wir schmausen und genießen die Natur. Ein Vater mit seinen beiden Kindern setzt sich irgendwann auf die andere Seite des Tisches und Anja fragt die Kinder sogleich, ob sie nicht einen Keks möchten. Bevor wir aufbrechen, schenkt sie ihnen die ganze Tüte.

Nun ist es nicht mehr allzu weit zum Auto, zum Glück, denn wir sind wirklich müde geworden. Kein Wunder, dass ich im Auto tatsächlich kurz einnicke. Zuhause schicke ich Anja noch ein Foto von uns auf dem Brocken, sie hat sich geduscht und aufs Sofa fallen lassen und schreibt: „Es war sehr schön.“ Ohja, was für ein Ausflug samt Ausblick und Austausch.

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