Die Goslarschen Höfe - Ein Ort für alle
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Geschrieben von Jonë Zhitia
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie unter bestimmten Umständen.“
Simone Weil
Wenn man von der Neuwerk Kirche aus (an dem wunderlichen Gebäude des alten Weberturms vorbei) zum Breiten Tor läuft und der Okerstraße folgt, führt sie zu den Goslarschen Höfen. Ein weites Gelände erstreckt sich hier, voller rotbrauner Backsteinbauten. Ein Café, ein Kaufhaus, eine Rösterei.
Bei meinem ersten Besuch führt mich Betriebsleiter Holger Pape herum. Unser erster Stop das „Hof Café“. An der Tür hängt ein Schild, das vor einer defekten Klimaanlage warnt. Die umstehenden Gäst:innen begrüßen sich, die Atmosphäre ist familiär. Die Frau hinter der Theke scheint von etwas überfordert zu sein, entschuldigt sich. „Wir haben Zeit“, antwortet man ihr lächelnd. Der übliche Stress und seine Schwester, die ungestüme Ungeduld, die unsere Alltagssituationen sonst begleiten, scheinen den Weg hierher nicht gefunden zu haben. Es ginge bei dem Betrieb um Zusammenarbeit, erklärt mir Holger. Die Menschen, die hier arbeiten, kommen aus verschiedenen Lebenssituationen. Manche sind Menschen mit Behinderungen, andere psychisch krank. Es gibt auch Langzeitarbeitslose, die hier langsam wieder Teil einer Gemeinschaft werden können.
Auch wenn verschiedene Politiker:innen gerne anderes behaupten, zeigen uns zahlreiche Studien, dass die meisten Menschen arbeiten wollen. Eine Studie des Robert-Koch-Institut Berlin untersuchte auch die teils fatalen gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Generell bedeutet nicht zu arbeiten für die meisten ein gesellschaftlicher Ausschluss, soziale Isolation, höhere Anfälligkeit für Krankheit bis hin zu einer geringeren Lebenserwartung. Verschiedene Forschungsinstitute (Institut für Arbeitsmarkt- udn Berufsforschung (IAB), Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), OECD, European Court of Auditors) bestätigen, dass diese Zahlen genauso für Menschen mit (Schwer-)Behinderung gelten. Und das die Arbeitsmotivation genauso gegeben ist. Aber sie scheitern, wie so viele, am Arbeitsmarkt, nicht an ihrem Willen.
Auf der Webseite der Goslarschen Höfe steht: „Integration sagt: Du bist anders, aber Du darfst bei uns mitmachen. Für dieses „Anderssein“ braucht es die Definition eines Normalzustands. Inklusion schaut nicht auf eine Norm und Normalabweichungen, sondern sieht jeden Menschen unabhängig von seinen Wesenheiten und Beeinträchtigungen als integralen und wertvollen Bestandteil der Gemeinschaft.“ Das Ziel ist es die Einstellung zu überwinden, man würde Menschen, die durch diese Gesellschaft eingeschränkt werden, einen Gefallen tun, in dem man sie arbeiten lässt. Stattdessen geht es darum zu verstehen, dass jeder Menschen ein Teil dieser Gesellschaft ist und es ihre Aufgabe ist sich so zu gestalten, dass alle in ihr einen Platz haben. Und viel mehr: Dass wir alle Menschen brauchen.
Bei den Mitarbeitenden der Höfe sind derzeit mindestens 40 Prozent Menschen mit eingetragener Schwerbehinderung. Zusätzlich gibt es auch über 80 ehrenamtliche Helfer. Von ihnen arbeiten sechs auch in der „Hof-Hilfe“. Ein Projekt, das mich mit am meisten begeisterte, weil es nicht nur ein soziales Miteinander sondern auch Nachhaltigkeit fördert. Jeden Donnerstag von 15 bis 17 Uhr kann man hier seine Kleingeräte zur Reparatur hinbringen. Wenn man die Werkstatt betritt, entdeckt man alles Mögliche in den Regalen: Toaster und Laubgebläse, Kaffeemaschinen und Puppen, Computer und ferngesteuerte Spielzeugautos. Die Dienst ist kostenfrei, Spenden sind natürlich erwünscht. Michaela Klapproth, erzählt davon, wie auch Altersarmut viele Menschen hierhin treibt. Leute lassen ihre 15 Euro Toaster hier reparieren, weil ihnen das Geld fehle, einen neuen anzuschaffen. Laut dem Landesamt für Statistik in Niedersachsen galt 2022 jede sechste Person als „armutsgefährdet“. Das betrifft vor allem Frauen, Rentern:innen, Menschen mit Migrationsbiografie und Menschen ohne Deutsche Staatsangehörigkeit.
In ihrem Buch „Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung“ schreibt Simone Weil: „Die Arbeit wird nicht mehr mit dem stolzen Bewusstsein getan, für die Gesellschaft von Nutzen zu sein, sondern mit dem erniedrigenden und beklemmenden Gefühl, durch eine vorübergehende Gunst des Schicksals ein Privileg zu besitzen, das man, gerade weil man es genießt, anderen wegnimmt – einen Platz“. Ein Gefühl, das mir vertraut ist. Für das Stipendium Stiftung Kloster Neuwerk Maria in Horto NOVUM OPUS bewarben sich neben mir über 70 Andere. Ich kenne ein paar von ihnen. Alles Schriftsteller:innen, die es genauso wie ich verdient hätten hier zu sein. Da ist ein Druck beweisen zu müssen, dass man es wert ist. Aber auch ein schlechtes Gewissen: Bin ich wirklich diejenige, die es am meisten verdient hier zu sein? Arbeite ich genug? Jeder schlechte Tag, an dem die leere Seite gewinnt, fühlt sich an wie ein Versagen. Wie die Bestätigung, dass man es doch nicht verdient hier zu sein. Dass man unrechtmäßig, jemand anderes den Platz weggenommen hätte.
Holger überreicht mir ein kleines Kärtchen mit meinem Namen drauf. Ein Ausweis. Jeden Tag darf ich bei den Goslarschen Höfen kostenlos frühstücken und Mittag essen. Ein Geschenk des Betriebs. Bei jedem späteren Besuch entdecke ich neue Eigenheiten des Betriebs. Das Graffiti, an der Rückseite des Cafés zum Beispiel. Oder schöne Figuren im Hofkaufhaus. Am 23. Oktober werde ich hier mit Iven Yorick Fenker lesen. Er ist gebürtiger Goslarer, wir lernten uns bei unserem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig kennen. Ich möchte was an diesen Betrieb zurück geben.
Als man zuerst das „Bürgergeld“ diskutierte warnten Politiker:innen des ganzen Spektrums davor, man würde damit Menschen dazu motivieren gar nicht mehr zu arbeiten. Natürlich wurde keine dieser Warnungen auch nach der Einführung Anfang 2023 wahr. Die Zahlen schossen nicht in die Höhe. Die Menschen behielten weiterhin ihre Jobs. Als es um eine Erhöhung des Bürgergelds ging, warnte Jens Spahn dann wieder, Arbeit würde sich nicht mehr lohnen. In Niedersachsen sagte der Sozialminister Andreas Philippi: „Die Fokussierung der CDU auf die sogenannten Totalverweigerer wird der Sache nicht gerecht. Das gilt umso mehr, als dass es von denen nur sehr wenige gibt.“ Er sprach auch einen weiteren Aspekt an: „Die Leistungen zu kürzen, ist aber der falsche Ansatz. Vielmehr muss bei den niedrigen Löhnen und Gehältern nach oben korrigiert werden“. Arbeit muss sich lohnen. Ja, das sollte sie. Aber was bedeutet das? Bei den Goslarschen Höfen heißt es, anständig mit den Mitarbeitenden umzugehen. Es bedeutet Verständnis und Entgegenkommen, aber vor allem Respekt.
Letztes Jahr schrieb ich mit einer Kollegin einen Artikel für die Süddeutsche Zeitung, der es sogar auf die Titelseite schaffte. Es ging um die Ansprüche an den Arbeitsmarkt der „Generation Z“, die jetzt auf den Arbeitsmarkt strömt und der ich auch knapp angehöre. Ein Satz stoß bei den älteren Lesenden auf große Empörung: „Ich erwarte, das mein Chef sich bei mir bedankt“. Ein Satz, den ich ganz selbstverständlich fand. Natürlich möchte ich Anerkennung für meine Arbeit. Natürlich, habe ich Anrecht darauf, das die mir übergeordnete Person wertschätzt, was ich leiste. Aber ein Kommentar tauchte immer wieder auf: Gen Z wäre undankbar. Wir wären nicht dankbar für die Möglichkeit zu arbeiten. Aber es umzudrehen und zu sagen: Unsere Vorgesetzten sind nicht dankbar für unsere Arbeit schien eine Art Verbrechen zu sein.
Das befremdet mich. Ein großer Teil meiner Freund:innen und Verwandten arbeiten eine klassische 40 Stunde Woche. Und es ist egal ob jemand kellnert, im Amt arbeitet oder im Kinderheim. All diese Berufe braucht unsere Gesellschaft. Es ist selbstverständlich dafür Anerkennung zu verlangen. Es sollte selbstverständlich sein sie zu bekommen. Wir brauchen eine Gesellschaft die Arbeitende Menschen schätzt und allen eine Möglichkeit gibt würdevoller und anständig bezahlter Arbeit nachzugehen. Und auch Sie, liebe Lesende, haben Anrecht darauf, dass Ihre Chef oder Ihr Chefin, sich bei Ihnen bedankt.