Es ist alles weg
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Geschrieben von Hank Zerbolesch
30.10.2025
Es gibt Zeiten, in denen ist jedes Wort ein Kampf, jeder Satz wie ein Krieg gegen sich selber. Man weiß, wie sich das, was man sagen will, anfühlt, aber dafür Worte zu finden, das scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Wie Zeitreisen, nur weniger wahrscheinlich. Diese Tage, Wochen, manchmal Monate fühlen sich an, als hätte dich jemand ausgewrungen wie einen Lappen der Putzkollone, die nach dem großen Armageddon den Planeten hat wischen müssen, und in dem dann all die Knochen und Seelen liegen. Und der über alldem kreisende Gedanke ist so laut wie der verzweifelte Schrei des letzten noch lebenden Menschen: Es ist alles weg. Was auch immer es war, das mich all die Geschichten hat erzählen lassen, das mich all die Bücher hat schreiben lassen, es ist weg. Weitergezogen zum nächstbesten, vielleicht auch schlechtesten, egal, bloß weg von mir. The Power has left the building, schlimmer noch, mich. Und diese Gefühle, die bohren sich so tief in die Seele, wie das jeweils letzte Album von Sierra Kidd. Wenn das, was du tust, so nah an das gekoppelt ist, was du bist, dann ist die Zeit, in der du nichts tust auch die Zeit, in der du nichts bist. Klingt wie ein Spruch von einem Abreiß-Countdown-Kalender für Suizidgefährdete, ist aber ein guter Oneliner für den aktuellen Gemütszustand. Aber warum ist das so?
Beim Schreiben eines Romans gibt es verschiedene Etappen. Es gibt die ‚Ich hab die geilste Idee der Welt’-Etappe, und auch die ‚Was ich mach, kann keiner‘-Etappe. Aber es gibt eben auch die ‚Ich weiß nicht mehr weiter‘-Etappe, dicht gefolgt von der ‚Es ist alles weg‘-Etappe. Und obwohl man weiß, dass das alles nur Momentaufnahmen sind, macht das die einzelne Etappe selbst nicht weniger dringlich. Die geilste Idee der Welt wird immer die geilste Idee der Welt bleiben, ganz egal wie oft man das schon gedacht, und später dann festgestellt hat: Ne, doch nicht. Darum fühlt sich jede einzelne ‚Es ist alles weg‘-Etappe auch an wie die allererste – und die allerletzte. Und es gibt nichts, was hilft. Niemals mehr wieder, es ist einfach vorbei, nächster Halt: stepstone.de. ‚Suchst du aktiv nach einem Job?‘ Ja. ‚Bist du derzeit berechtigt, in Deutschland zu arbeiten?‘ Ja! ‚Benötigst du ein Visumssponsoring für die Arbeit in Deutschland?‘ Was? ‚Wie schätzt du dein Deutschniveau ein?‘ Ich schließe Stepstone, begrabe die Hoffnung auf einen anderen Beruf und denken über alternative Lösungen nach.
Es gibt Dinge, die Helfen. Erste-Hilfe-Maßnahme Nummer eins: Sport. Fitnessstudio. Scheiben auf die Langhantel und alles vom Körper weg, oder zum Körper hin, egal, Hauptsache am Ende knallen Endorphine in den Kopf. 1 x täglich Eisen gegen ‚Es ist alles weg’-Gedanken, vom Arzt verschrieben, privat zahlbar. Und es gibt Zeiten, in denen reicht das.
Für den Fall, dass die erste Maßnahme nicht ausreicht, greift die zweite. Die ist nicht vom Arzt verschrieben (wobei es mal einen gab, der meinte nur: „Wer heilt hat Recht.“), aber um einiges effektiver als die erste: Der Suff. Und das Wo und Was spielt hier keine Rolle, wichtig ist nur, dass der Kopf ausgeht. Denn sehr oft ist der ‚Es ist alles weg‘-Gedanke bloß eine Spirale. Ein Mantra, das man sich so lange verbal in den Kopf hinein geschraubt hat, bis man es irgendwann selber glaubt: Es ist alles weg. Und wenn man dann den Kopf ausknipst, ist auch der Gedanke weg. Und dieser leicht hinterhältige Skill, der funktioniert überraschend gut. (Besuchen Sie meinen VHS-Kurs ‚Wie werde ich Alkoholiker – in nur 28 Tagen!‘)
Aber manchmal, wenn der Trinker unter dem Vollmond heult und der Lektor dem Teufel Feuer gibt, da hilft auch der größte Suff nichts. Und für diese Fälle, da gibt es eine Geheimwaffe: den Friedhof. Ein Gang über den Friedhof ist wie ein Hard Reset im Kopf. Ein Gang über den Friedhof nämlich rückt den ganzen Scheiß, über den man sich so Gedanken macht, in ein anderes, ein helleres Licht. Dann ist halt alles weg, na und? Dann kann ich halt nicht mehr schreiben, na und? Es findet sich schon was neues, an das ich mein Glück hängen kann. Besser arbeitslos als zwei Meter unter der Erde und von Würmern zerfressen. Scheiß auf die Kunst!, denkt man dann, trinkt sich ein zwei Bier, legt sich hin, schläft einen traumlosen Schlaf … und am nächsten Tag, was soll ich sagen, ist alles wieder da. Dem Friedhof sei Dank.
So ist das manchmal im Leben.