Der erste Schritt

Ich stehe bis zur Hüfte im Herzberger Teich - seit Minuten stehe ich so und bin unfähig, einen Schritt weiter zu gehen. Meine Schwimmbrille baumelt nutzlos von meiner Hand.

Geschätzte Lesezeit: 3 Min

Geschrieben von Armin Wühle

Ich setze mir die Brille in Habachtstellung auf die Stirn, nehme sie wieder ab, packe sie von der rechten in die linke Hand. Allerlei lässt sich mit der Brille anstellen, nur überziehen und losschwimmen, das ist keine Option.

Vor mir liegt eine schwarze Wasserfläche - dahinter bewaldete Bergflanken. Der Herzberger Teich speist sich aus einer Bergquelle; das Wasser ist so kalt, dass jeder Zentimeter Haut schmerzt, der damit in Berührung kommt, traktiert von dutzenden Nadeln.

In manchen Problemlagen wird es nicht leichter, sich Zentimeter um Zentimeter vorzukämpfen.

Eine Beziehung beenden.

Einen Seitensprung gestehen.

Eine Spinne entfernen.

Eigentlich bin ich ein Vertreter des Augen-zu-und-durch - nicht lange überlegen, sondern entschlossenen Schrittes ins kalte Wasser. Jammern kann man auch später, aber wenigstens gibt es kein Zaudern, kein Zögern. Und doch sind die erwartbaren Konsequenzen manchmal zu hart, um den notwenigen Schritt zu gehen. So auch heute.

Neben mir steigt ein Mann meines Alter ins Wasser - ihm ist anzusehen, dass er sich ähnlich quält, und doch geht er, nachdem er seine Arme eine Weile mit dem kalten Wasser benetzt hat, einfach weiter und schwimmt prustend voran. Mein Ehrgeiz ist geweckt: Ich packe die Schwimmbrille von der rechten in die linke Hand und wieder zurück.

Eine Kündigung aussprechen.

Ein Outing vollziehen.

Den ersten Schritt zur Versöhnung wagen.

Nun geht auch eine ältere Dame selbstbewusst ins Wasser.  Sie zögert nicht einmal - es ist ein entschlossener Schritt, eine gerade Linie ins Wasser. Bald sehe ich in der Ferne nur noch ihre Badekappe, die aus dem Wasser ragt.

Eine Freundschaft beenden.

Den Keller aufräumen.

In eiskaltes Wasser tauchen.

Ich atme tief ein, ziehe mir die Brille über. Zähle von 10 abwärts. Tauche ein.Ich kann nicht behaupten, dass es leichter wird, nachdem der erste Schritt getan ist - manchmal ist es so, und das kann Mut machen. Aber manches wird nicht leichter, sondern nur schwerer.

Ich warte darauf, dass sich mein Körper an die Temperatur gewöhnt. Ich drehe eine erste (sehr kurze) Runde, drehe eine zweite (noch kürzere) Runde. Die dritte breche ich nach zwei Zügen ab und steige zitternd ans Ufer zurück.

Und doch lächle ich, als ich im Gras sitze und über den Teich blicke.