Nebel im August

Die Stadt liegt im dichten Nebel, als ich die Mauerstraße hinuntergehe. Es ist zu warm, um eine Jacke zu tragen - und doch suggeriert mir die trübe Stimmung und der feine Regenfilm, ich müsse mir etwas überziehen.

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Geschrieben von Armin Wühle

Es ist mein erster Spaziergang in Goslar. Die Mauerstraße ist mir noch größtenteils fremd -  die Überraschung besonders groß, wenn ein neues Fachwerkhaus aus dem Nebel tritt. Als würde es frisch aus dem Boden schießen.

In dem bayrischen Dorf, in dem ich groß geworden bin, gibt es eine katholische Kirche (natürlich). Der Kirchturm ist bei weitem größer als für eine 3000-Seelen-Gemeinde üblich: mit seinen 70 Metern ist er weithin sichtbar, auch von meinem Elternhaus. Ich erinnere mich an die Faszination, wenn dieser Turm, der aus meinem Alltag nicht wegzudenken war, im Nebel verschwand. Minutenlang stand ich am Küchenfenster im 1. Stock und starrte hinaus - auf das Dorf, das bis zu den Nachbarhäusern intakt schien, aber dem ortsprägenden Turm beraubt war. Nicht einmal die schwarzen Zeiger der Kirchturmuhr konnte ich durch den Nebel erkennen. Ich stellte mir vor, die Welt um uns sei verschwunden (inklusive Turm) und hätte uns auf einer Insel zurückgelassen, die nur meine Eltern, unsere Nachbarn und mich einschlossen. Ich stellte mir vor, wie wir bald um die letzten Ressourcen auf unserer Insel kämpfen würden (ich war ein fernsehverwöhntes Kind).

An diese kindliche Vorstellung muss ich denken, als ich die Mauerstraße hinunterspaziere. Besonders, als das Breite Tor vor mir auftaucht, fühle ich mich erneut in einen Endzeitfilm katapultiert. Ein solch wuchtiges Bauwerk, das an Kanonen und Schießpulver erinnert, hätte ich nicht erwartet. Die Baustellenfahrzeuge und Absperrungen nehmen ein wenig vom mittelalterlichen Eindruck - und doch komme ich mir vor wie in einer Folge Game of Thrones. Anscheinend muss ich mich gleich einem der rivalisierenden Häuser anschließen. Winter is coming.

Merkwürdig ist es schon, an einem Augusttag durch ein stark vernebeltes Goslar zu spazieren (und regelmäßig die Jacke auszuziehen, weil man ins Schwitzen gerät, nur um sie fünf Minuten später wieder anzuziehen, weil einem fröstelt). Es ist ja ein Trugschluss, dass die Klimaerwärmung dazu führe, dass wir nur noch brütend heiße Sommer hätten. Zwar werden die Temperaturen im Durchschnitt steigen, vor allem aber wird unser Wetter immer unberechenbarer werden, mit extremeren Wetterphänomenen. Der heutige Tag Mitte August: Ausdruck des Klimawandels, oder bloß einer von vielen Einzelfällen? Die drei Jahreszeiten, die ich während meiner Residenz von August bist Dezember mitnehmen soll - ich erlebe sie jedenfalls an einem einzigen Tag.

Am Breiten Tor mache ich kehrt, spaziere über eine ausgestorbene Bäckerstraße zurück zur Neuwerkkirche.

So ein "WortWerker" klingt irgendwie mittelalterlich, meinte eine Kollegin letztens zu mir. Als säße jemand mit einer Tintenfeder in einem Turm an den Toren der Stadt und halte das Geschehen fest (was ja alles stimmt). Ich frage mich, welche Rolle ich einnehmen soll, wenn die Stadt aus dem Nebel von einem Drachen (oder von den Braunschweigern) angegriffen wird. Wahrscheinlich sitze ich dann in meinem Turm und halte das Gemetzel für die Nachwelt fest.

Der Eindruck einfallender Heere und blank polierter Speerspitzen verflüchtigt sich jedoch, als ich den Handyshop vor mir auftauchen sehe (5 GB Datenvolumen für nur 4,99€!). Ich steige in meinen Turm, backe mir eine Tiefkühlpizza auf und träume von moderneren Abenteuern.