Ein Mensch der Gemeinschaft – Sabine Fontheim
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Geschrieben von Marie-Luise Eberhardt
„Ich bin kein Mensch der Vergangenheit, ich bin ein Mensch der Gegenwart.“ Sabine Fontheim
Es ist Dienstag, der 13. September 2022. Ich treffe mich am späten Nachmittag mit Sabine Fontheim an einem Ort, der für sie besondere Wichtigkeit besitzt, weil er für andere Menschen ein Ankerpunkt ist: Wir treffen uns im Garten der Tagesklinik Dr. Fontheim am Bleicheweg 16 in Goslar. Diese Ecke von Goslar kenne ich noch nicht und so laufe ich neugierig bergauf und sehe wenig später Sabine am Fußgängerweg stehen. Die Immobilie samt großen Garten liegt direkt an einer Wiesenlandschaft, die in den Wald führt und zum sogenannten Blauen Haufen, unterhalb des Maltermeister Turms.
Es ist nach 17 Uhr und für die Patient*innen und Mitarbeiter*innen sind Behandlung und Therapie für heute beendet. So sind wir allein – mit Ausnahme von Grashüpfern und einigen anderen Insekten und Vögeln. Es weht ein Lüftchen. Wir nehmen uns zwei Stühle aus dem Schuppen, stellen sie auf die Wiese unweit der Hochbeete und beginnen unser Gespräch. Charakteristisch stellt Sabine ihre Person nicht in den Vordergrund, sondern beantwortet meine Frage, warum sie sich diesen Ort ausgesucht hat, wie folgt: „Dieser Ort ist für mich Zeichen – für mich sprechen ja immer Zeichen – Zeichen für eine zeitgemäße Psychiatrie in diesem Jahrtausend. Das ist für mich das Entscheidende.“ Die Patient*innen werden hier von 8 Uhr morgens bis 16.30 Uhr behandelt, wie in einer Klinik nur eben mit dem Unterschied, dass sie an diesem Ort nicht wohnen, sondern nach den verschiedenen Therapiesitzungen zurück nach Hause gehen.
Wir sprechen nun eine ganze Weile über das Familienunternehmen Fontheim, welches in der sechsten Generation seit 140 Jahren stationäre und ambulante Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen anbietet. Sabines Sohn Hans-Christian trat vor acht Jahren als Neurologe und geschäftsführender Gesellschafter in die Fußstapfen von Sabines Mann Kurt, der über Jahrzehnte das Unternehmen als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie leitete. Interessanterweise wurden in der Klinik in Liebenburg zu ihrer Gründungszeit nur Frauen behandelt, damals gab es noch keine gemischtgeschlechtlichen Behandlungsangebote. Ich lausche Sabines Erzählungen über die Entwicklung der psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten, die sich durch das Aufkommen von Medikamenten in den 1950er Jahren grundlegend änderten. Sie spricht auch über den Abbau von Vorurteilen in Bezug auf Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft. Die Tagesklinik sei dafür selbst ein Beispiel und endlich kommen wir nun auch auf Sabines Wirken zu sprechen.
Sie war bis vor drei Jahren in Vollzeit für den Erwerb und die Unterhaltung von Immobilien des Familienunternehmens innerhalb und außerhalb von Liebenburg verantwortlich. Anfang der 2000er Jahre hatte sie Ausschau nach einer Immobilie gehalten, die zum Angebot passt, wo „Patienten eine Atmosphäre haben, die ihnen hilft Körper, Geist und Seele gesunden zu lassen“ und auch die Mitarbeiter*innen gut arbeiten können. Einen Kraftort, den die Dr.Fontheim GmbH und Co. Kg 2002 erwarb. Doch die Anwohner*innen waren vorerst gar nicht begeistert, dass in das ehemalige Ausflugslokal und spätere Hotel nun eine psychiatrische Tagesklinik einziehen sollte. Einige wollten den Kauf sogar verhindern, zu groß waren die Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aber „das Blatt hat sich um 180 Grad gedreht. Man ist froh, dass hier keine Disko eingezogen ist. Man passt auf die Immobilie auf, wenn sich hier irgendwas tut, was man nicht kennt. Die Bürger, die sich damals sehr intensiv geäußert haben und versucht haben, das zu verhindern, sind heute diejenigen, die sagen: wir möchten um Entschuldigung bitten und das finde ich eine Größe.“ Einmal mehr für Sabine ein Zeichen dafür, dass Begegnung und das eigene Erleben, Vorurteile vermindern. „Man muss Psychiatrie erfahren, um sie wirklich zu schätzen und dann auch dort arbeiten zu können.“
Besonders in Deutschland herrsche ein skeptischer Blick auf Psychiatrien: „Wir haben diese Bürde der Misshandlungen bzw. der schlechten Behandlung von psychisch Kranken während des Nationalsozialismuses.“, erinnert Sabine. Freiheit sei nicht zu letzt wegen dieser schmerzenden Geschichte ein sehr hohes Gut und die Psychiatrie ist neben dem Strafvollzug der einzige Ort, wo Menschen durch einen richterlichen Beschluss gegen ihren Willen untergebracht werden. Allerdings betont Sabine, dass diese Entscheidung nie leichtfertig geschehe, sondern bei schwerwiegenden Erkrankungen, durch welche sich die Menschen selbst und/oder andere gefährden. „Viele der Patienten, die in unserer Klinik behandelt worden sind, sagen nachher: ich bin so froh leben zu dürfen. Ich hatte solche schweren suizidalen Gedanken und Gott sei Dank habe ich mich aufgrund des stationären Aufenthaltes und der anschließenden ambulanten Therapie nicht umgebracht.“ Sabine ist sehr bei den Patient*innen. Sieht die Anstrengung, Erschöpfung, die Schwere der mentalen Arbeit.
„Ich glaube aufgrund dieser langjährigen Tätigkeit, habe ich ein seismographisches Empfinden für menschliche Befindlichkeiten. [Pause] Zu spüren, ob es jemanden nicht gut geht, das muss nicht gleich psychisch krank sein. Einfach nicht im Gleichgewicht: ob körperlich, seelisch, geistig, sozial auch. Vielleicht finanziell. Das ist glaube ich eine Eigenschaft, die ich auch durch meinen Mann gelernt habe: Genau hingucken, bevor ich jemanden laut einschätze. Sehr lange gut beobachten, zuhören, hinhören. Nicht pauschalisieren.“, beschreibt sie die Eigenschaft, die sie an sich schätzt, als ich mich viel später im Gespräch danach erkundige. Bemerkenswert finde ich auch, dass Sabine, ohne dass ich danach frage, hinzufügt, was Sie als unangenehm an sich selbst empfindet. „Ich verlange zu viel, ich erwarte zu viel von Menschen. Ich bin preußisch erzogen worden und dadurch fehlt mir manchmal die Toleranz, dass Menschen nichts tun. Aber das lerne ich im Alltag, weil ich es mir jetzt auch selber mal gönne und auch der Meinung bin, jeder hat das Recht so zu leben, wie er möchte, außer er überschreitet die Grenzen des Anderen. Das kann man lernen zu respektieren. Ich unterscheide ja immer zwischen respektieren und akzeptieren und ich respektiere das dann eher, als das ich es akzeptiere, weil ich will mich ja nicht verstellen, aber ich will lernen, das zu respektieren.“ Sabines ehrliche Selbstreflexion berührt und überrascht mich in diesem Moment. Zum Einen weil ich mich über ihr Vertrauen freue, schließlich kennen wir uns noch nicht so lang, zum Anderen, weil ich nicht oft Menschen begegne, die ihre Schwächen benennen, dabei empfinde ich gerade das als charakterstark und menschlich. Genauso ehrlich geht sie auch mit ihrem Gegenüber um und verteilt Lob oder Kritik ohne sich anzubiedern.
Für sie ist das Eingestehen von Schwächen auch eine Stärke im Team der Stiftung Kloster Neuwerk Maria in horto, deren Vorsitzende sie ist. Sie schwärmt von den tollen Menschen, die „unglaublich interessante Biografien haben“ und deren Charaktere und Fähigkeiten sich wunderbar ergänzen. „Das macht einfach so viel Spaß!“ Zurecht betonte sie in ihrer Rede zu meiner Stipendienübergabe den erfüllenden Kampf der Hortensien und Hortensen bis hin zur Umsetzung des Novum Opus Stipendiums.
Von der Stiftung hat sie übrigens durch einen Artikel samt Foto in der Goslarschen Zeitung erfahren „und dieses Foto sprang mich an, weil das Frauen waren, die ich zum großen Teil erst mal nicht kannte.“ Der Artikel tat sein Übriges und Sabine war überzeugt, dass dieses Projekt „kein Kaffeekränzchen“ sei, sondern diese Gruppe ein Ziel vor Augen habe. So schrieb sie Pfarrer Werner Böse, der die Stiftung 2010 ins Leben gerufen hatte und wurde Teil der Stiftung Maria in horto. Nach Werner Böses plötzlichem Tod 2013 und einer fast zweijährigen Phase ohne Ziel und Ungewissheit, stieß Heidi Rochs Idee eines Schreibstipendiums auf großen Zuspruch im Stiftungsteam. Die Idee war geboren und schlug auch bei der Literaturliebhaberin Sabine ein. Mit ihrem Mann besucht sie schon viele Jahre einen Literaturkreis, der seit über 30 Jahren besteht. Paare mit unterschiedlicher Profession – von Philosophieprofessor, Tierärztin, Pastor, Lehrerin und Psychiater und einer Altersspanne von 50 bis 80 Jahren – lesen zehn Bücher im Jahr. Sie treffen sich jeden Monat und diskutieren je Treffen ein Buch. Welche Bücher sie lesen, entscheidet sich immer im Dezember. Da kann jede Person zwei Bücher vorstellen und dann wird geheim gewählt. „Das ist immer wahnsinnig spannend und dann weißt du am Ende des Abends, welche Bücher im nächsten Jahr gelesen werden.“ In den letzten Jahren war unter den zehn Büchern auch immer ein Sachbuch dabei. Besonders hat es Sabine die Autorin Judith Schalansky und deren Romane „Der Hals der Giraffe“ und „Verzeichnis einiger Verluste“ angetan. Im November 2022 war im Literaturkreis Sabines Wunschbuch „Daheim“ von Judith Herrmann an der Reihe und sorgte für eine rege Diskussion. Diesen intellektuellen Austausch schätzt Sabine. Biografien von Verstorbenen interessieren sie hingegen nicht:
„Ich bin kein Mensch der Vergangenheit, ich bin ein Mensch der Gegenwart und gucke gerne voraus, gestalte die Zukunft.“
Jedes Jahr ist sie auch den Abend vor der Vergabe des Wilhelm Raabe Preises in Braunschweig mit ihrem Mann unterwegs im kleinen Theater, wo verschiedene Autor*innen lesen. In diesem Jahr wurde das Konzept sogar ausgeweitet und es fand die 1. Braunschweiger Literaturzeit statt. Ich durfte Sabine und Kurt begleiten und einmal mehr Zeugin der Literaturliebe Sabines werden. Gebannt hörte sie dem Preisträger Jan Faktor und im Anschluss Kim de`l Horizon zu, beobachtete genau und tauschte sich im Anschluss über Werk und Autor mit uns aus.
Als Kind forderte ihre Mutter sie vor allem im Winter immer wieder zum Lesen auf. Allerdings eher, weil es sonst keine Freizeitmöglichkeiten in Hornburg, wo sie geboren und aufgewachsen ist, gab. Die frühe Prägung mit Literatur sieht Sabine als ehemalige Lehrerin als eine Voraussetzung im Deutschunterricht Kinder und Jugendliche zu erreichen. Deshalb hatte sie bewusst die naturwissenschaftlichen Fächer Physik und Mathe gewählt, sowie evangelische Religion. Seit 1973 wollte sie als Hauptschullehrerin mit den Kindern arbeiten, die vom Elternhaus bildungstechnisch nicht so viel Unterstützung erfahren. Mit den naturwissenschaftlichen Fächern und beispielsweise der Möglichkeit von Experimenten seien die Kinder ohne Vorbildung leichter zu erreichen. „Das habe ich wirklich beobachtet, um wirklich gut zu sein oder um dich einbringen zu können, bedarf es doch schon einer Grundlage durch das Elternhaus. Das macht die Physik, die Mathematik dir schon einfacher.“
Sabine unterrichtete als Protestantin vorwiegend an katholischen Konfessionsschulen beispielsweise in Göttingen. In Duderstadt wurde ihre Schule von Ursulinen geführt. Die Zusammenarbeit mit den Nonnen hat sie dabei sehr zu schätzen gelernt. „Die waren so unfassbar gebildet.“ Als ihr Mann vor einigen Jahren sehr krank war, hat sie sich selbst mit der Frage beschäftigt, klösterlich zu leben. Denn ohne Sinn allein zu leben, kommt für Sabine nicht in Frage.
„Ich bin ein Mensch, der Gemeinschaft. Und auch wieder einer Gemeinschaft, die ein Ziel hat.“
Selbst hat sie Freundinnen, die mit Mitte 60, Anfang 70 -meist verwitwet- ins Kloster gegangen sind. „Aber Nonne in der modernen Form. Es gibt ja auch hier Formen wie z.B. in den Klöstern in der Lüneburger Heide, die alle zur Klosterkammer Hannover gehören, wo du als nicht ordensgebundene Frau trotzdem in den Klöstern leben kannst und dort deine Fähigkeiten einbringen kannst, aber du musst dich nicht in irgendeine Weise Ordensregeln oder einem Habit unterordnen, sondern es ist ein freier Zusammenschluss von Frauen.“ Die Frauen haben einen gemeinsamen Tagesablauf, der sie auch öfter am Tag zusammen kommen lässt. Gerade dieser gemeinsame Austausch vor allem mit intellektuellen Menschen, die sich geistig gegenseitig befruchten, reizt Sabine sehr. Sie erzählt mir auch von einer noch moderneren Form klösterlichen Lebens in Helmstedt, wo Frauen, die das Kloster unterstützen, nicht mehr im Kloster leben, sondern sich nur in den Räumlichkeiten des Klosters treffen und gemeinsam gesteckte Ziele realisieren. „Aber das käme für mich nicht in Frage, das ist mir zu offen. Da fehlt mir dann doch der klösterliche Zusammenhalt.“ Das Thema Stiftsdame zu werden, sei zwar noch nicht ganz vom Tisch, aber zum Einen hat sie nun neben Projekten wie der Stiftung Maria in horto, mittlerweile auch acht Enkelkinder, mit denen sie regelmäßig Zeit verbringen möchte. Ihr Glaube an die Botschaft Jesu Christi begleitet Sabine im Alltag sowieso. Religion und religiöse Toleranz sei auch in ihrer Ehe immer ein Thema und aufgrund familiärer Vorgeschichte spiele auch das Judentum eine große Rolle. „Also für mich kann es keinen Glauben geben, nur in meiner Stube und nur abgeschottet. Auch Glaube braucht Gemeinschaft. So wie auch Jesus Christus in der Gemeinschaft gelebt hat. Und Gemeinschaft erfahre ich im Gottesdienst und deswegen gehe ich dort hin, aber manchmal bin ich unbeteiligt und andere Male sage ich mir: wow das war heute so ein wichtiger Impuls, das kann die Atmosphäre der Kirche sein, das kann der Inhalt der Predigt sein, die Fürbitte sein, das ist ganz unterschiedlich, auch dadurch in welcher Stimmung ich dahin komme.“
Einschneidend war für Sabine daher auch die Erfahrung Ostern im ersten Lockdown 2020 allein mit ihrem Mann zu feiern, damals noch in Liebenburg. Von ihrem Pastor erhielten sie eine Anleitung zum Feiern des Abendmahls, eine Videoübertragung gab es damals noch nicht. „Als wir zu zweit am Tisch saßen, hatten wir nur diese Agenda daliegen und haben dann zu zweit Abendmahl gefeiert, mit einem kleinen Altar – also da war nur ein Kreuz, was wir uns dahin gestellt hatten und ein paar Blumen – das war schon speziell, befremdlich, so sehr intim.“ Während Corona sei der Glaube für sie einer der tiefsten Haltepunkte gewesen.
Nach Goslar ist Sabine gemeinsam mit ihrem Mann erst vor zwei Jahren aus Liebenburg gezogen. Durch die Goslaer Tagesklinik sei sie zuvor oft in Goslar gewesen und die Stadt ihr ans Herz gewachsen. Freunde und Bekannte hatte sie bereits einige in Goslar und durch die Stiftung Maria in horto oder die Kantorei, in der sie viele Jahre gesungen hatte auch schon viele Bezugspunkte. Sie schätzt im Gegensatz zu Liebenburg, was nur zweieinhalbtausend Einwohner hat, besonders die kulturellen Möglichkeiten und die Menschen in Goslar. Trotzdem sei Goslar überschaubar und „ich finde je älter man wird, reduziert man sich wieder wie das Kleinkind: erst bis zum vierten Lebensjahr im Mikrokosmos, dann wird der Kosmos immer größer und im Alter habe ich so das Gefühl, geht man wieder auf den kleinen Kosmos zurück. Und das finde ich dann in so einer Stadt wie Goslar wunderbar.“
Aufgewachsen Anfang der 50er Jahre im kleinen mittelalterlichen Hornburg unmittelbar an der innerdeutschen Grenze war Sabines Kindheit zum einen vom Mikrokosmos der Kleinstadt geprägt, aber eben vor allem auch von der Teilung Deutschlands. Deshalb sei sie schon gespannt auf mein AudioFeature geTEILt bemerkt sie an diesem Nachmittag. Wir kommen in den nächsten Monaten noch öfters auf dieses Thema zurück.
Die Grenze hat Sabine zuerst als grüne Grenze noch vor dem Mauerbau kennen gelernt. Ihre Mutter hatte viele Verbindungen in die Ortschaften, die dann bereits in der DDR lagen. „Die Grenzsoldaten wohnten in der Nachbarschaft. Die Hunde hatten dort ihre Zwinger. Also die Anwesenheit der Zöllner und Grenzer, das war Alltag für mich. Wir konnten die Hunde von drüben hören, die Streifen gelaufen sind und wir haben die Leuchtkugeln gesehen, damit bin ich tagtäglich konfrontiert gewesen.“
Nach dem Mauerbau 1961 und der Verschärfung der Grenzkontrolle kam es mehrmals vor, dass Sabine von der Flucht einzelner Grenzsoldaten mitbekam. Im Ratsgymnasium, wo ich sie für mein Projekt TEILen als Zeitzeugin einlud, erzählt sie Schüler*innen von einem Fluchtversuch, der tödlich für den Grenzsoldaten endete. Die Detonation schleuderte ihn zwar in den Westen, allerdings nicht lebendig. Die eindrückliche Erzählung bleibt im Kopf der Jugendlichen.
Sabine erinnert sich auch noch genau an ihre Besuche in Berlin für die sie durch die DDR reisen musste. „Es war jedes Mal angstbesetzt. Auch für uns Westdeutsche. Kommst du wieder zurück abends. Schrecklich diese Frauen, die in diesen Häuschen saßen an den Kontrollpunkten, die waren so hart, verzogen kein Gesicht. Ich fand das ganz schlimm.“ Sie kritisiert aber auch, dass viele Westdeutsche vor allem Richtung Ruhrgebiet oder Bayern gar nicht den Wunsch verspürten in die DDR zu reisen oder sich überhaupt mit der DDR zu beschäftigen. Diese Distanz zum anderen deutschen Staat teilte eben auch die Westdeutschen und so erkläre sie sich auch das Desinteresse von 1989 bis heute von einem Großteil der westlich sozialisierten Menschen an den Neuen Bundesländern. An den 9. November 1989 kann sich Sabine ganz genau erinnern. „Das war sensationell. Wir sind alle los. Die Grenze war ja nicht mal 800 Meter entfernt. Ich habe meine Mutter nie so weinen sehen. Das war unglaublich: wie viele Menschen sie wiedergesehen hat, die sie seit 1945 nicht mehr gesehen hat. Das war schon etwas besonderes.“
Abschließend erzählt sie mir von einem kleinen Büchlein mit Reden von Angela Merkel, die sie während ihrer 16-jährigen Amtszeit gehalten hat. Die Rede vom 03. Oktober 2021 habe ihr besonders gut gefallen, da Angela Merkel mit dem Wissen nicht wieder zu kandidieren, biografisch über die Zeit 1989/90 und die Vorurteile, welche auch ihr als Ostdeutsche begegnen, spricht. „Da war sie so persönlich und spricht alles aus, was ihr so empfunden haben müsst. Das war eine fantastische Rede.“ Und wie Sabine so ist, habe ich das Büchlein prompt am nächsten Tag im Briefkasten. Sabine ist eben eine Frau, die lieber loslegt und handelt, als lange zu palavern. Eine Frau der Tat! Und ich freue mich, sie bei diesem Gespräch auch von ihrer ganz persönlichen Seite kennen gelernt zu haben, denn hinter der taffen Geschäftsfrau, die für ihre Projekte und Themen lebt und leidenschaftlich kämpft, steckt eben auch ein vielschichtiger, berührender Mensch.