Fahrer:in gesucht

Zu Besuch bei der Goslarer Tafel.

Geschätzte Lesezeit: 6 Min

Geschrieben von Armin Wühle

Ich laufe durch eine Wohnsiedlung in Oker und suche nach dem „Kleinen Tisch“. Schon lange möchte ich die Arbeit der Tafeln kennenlernen – umso mehr freut es mich, dass mir die Goslarer Tafel „Kleiner Tisch“ heute ihre Arbeit vorstellt. Leiterin Kirsten Neveling begrüßt mich in der Ausgabestelle und führt mich durch die Räume. Es herrscht reger Betrieb, ich muss gleich einer Wagenladung Kartoffeln ausweichen.

Seit 1996 gibt es bereits die Goslarer Tafel, eine von mittlerweile 960 Tafeln bundesweit. Angefangen hat alles in einer Garage in Oker und einigen wenigen Ehrenamtlichen. Mittlerweile - auch dank der Unterstützung zahlreicher Förderer aus der Goslarer Zivilgesellschaft - hat sich die Arbeit immer weiter professionalisiert. Ein eigene Ausgabestelle, Lagerräume und ein Kühltransporter konnten angeschafft werden.

Womit wir beim aktuell größten Problem wären. "Wir brauchen Fahrer", so Neveling. Mit Ehrenamtlichen, 1€-Jobber:innen, Bufdis sowie Menschen, die in der Tafel Sozialstunden ableisten, sei man (noch) gut versorgt - doch nur wenige könnten einen Kleinlaster steuern. Dabei ist das der entscheidende Punkt: wenn die Lebensmittel nicht von den Supermärkten ins Lager kommen, nützt alles andere wenig.

Wir sitzen mittlerweile im Besprechungsraum der Tafel. Nebenan befinden sich weitere Lagerräume und hunderte, wenn nicht tausende leerer Eierkartons. Neben Kirsten Neveling sitzt Edeltraut Breeger, 2. Vorsitzende der Goslarer Tafel. Beide erklären mir die Tafel-Grundsätze, etwa, dass Lebensmittel nicht zugekauft werden dürfen. So ist sichergestellt, dass die Arbeit im gleichen Maße die Folgen der Armut bekämpft wie dem Ressourcen- und Umweltschutz dient.

Ich schreibe bewusst, dass sie die Folgen der Armut bekämpft und nicht die Armut selbst. Genau diesen Fehler begehen immer wieder lokale Behörden, wie mir Frau Neveling und Frau Breeger bestätigen. Regelmäßig kommen Kund:innen zu ihnen, denen in der Ausländerbehörde oder im Jobcenter einen Laufzettel der Tafel in die Hand gedrückt wird.

Das darf nicht sein, finde ich. Der Staat darf sich niemals auf das ehrenamtliche Hilfesystem der Tafeln verlassen, sondern muss selbst Voraussetzungen schaffen, dass seine Bürger:innen nicht auf Lebensmittelspenden angewiesen sind. „Auch wird dadurch der Eindruck erweckt, es handle sich um eine staatliche Leistung, auf die ein Anrecht besteht. Insbesondere bei Menschen, die nicht mit dem Tafelsystem vertraut sind, kann sich dann eine Anspruchshaltung entwickeln", so Neveling.

„Es ärgert mich, dass sich der Staat auf uns verlässt“, findet auch Breeger.

Die Fluchtbewegungen 2015/2016, aber vor allem der Ukraine-Krieg haben zu einem Anstieg der Nachfrage geführt. Andere kommen zum Beispiel, weil das Bürgergeld (früher Hartz IV) nicht ausreicht. Wiederum andere haben eine Arbeitsstelle und müssen trotzdem „aufstocken“. Viele alleinerziehende Mütter sind unter den Kund:innen.

Gerade die hohe Zahl an sogenannten „Aufstockern“ empört mich. Dass Menschen in Deutschland von ihrer Arbeit nicht leben können, ist nicht dem Weltgeschehen oder einer dritten Partei anzulasten - sondern unseren eigenen politischen Vertretungen und Arbeitsmarktreformen. Deutschland hat europaweit den größten Niedriglohnsektor nach den baltischen Ländern, Polen und Bulgarien. Der Skandal um den Schlachtbetrieb Tönnies, der exemplarisch für ein größeres System an Ausbeutung steht, ist schon lange wieder in Vergessenheit geraten – die nicht weniger skandalösen Praktiken der Paketlieferdienste nehmen wir täglich in Kauf.

Tafeln lösen dieses Problem nicht, aber sie lindern deren Auswirkungen auf den Menschen – bis eine strukturelle Lösung gefunden ist. Es ist eines der Markenzeichen der Tafeln, an ihrer eigenen Selbstauflösung zu arbeiten – und auch immer wieder auf die Politik einzuwirken, Maßnahmen gegen Armut zu ergreifen.

Wir sind nun wieder oben in der Küche angelegt, wo die Helfer:innen die heutigen Lebensmittelspenden sortieren – ich sehe viel Gemüse, einen Einkaufswagen voller Brötchen, Plunderteilchen, Schokoriegel, vegane Wurstprodukte. Gepackt werden die Kisten in Rücksprache mit den Kund:innen – auf ihre Essgewohnheiten und Vorlieben wird bestmöglich Rücksicht genommen. Gegen 2€ wird dann eine Kiste Lebensmittel ausgegeben, die je nach Spendenaufkommen mal mehr, mal weniger enthält. Meist befinden sich Waren im Wert von 20-30€ darin. Einen Aufnahmestopp wie bei anderen Tafeln gibt es in Goslar nicht: „Lieber ist weniger in den Kisten, aber dafür für alle", so Breeger.

Die Supermärkte achten aus Effizienzgründen sowie aus gesteigertem Umweltbewusstsein immer mehr auf Ressourcenschonung. Durch die Digitalisierung und technologischen Fortschritt können Supermärkte immer besser ihren Verbrauch planen. Dass weniger Lebensmittel weggeworfen werden, ist eine positive Entwicklung – gleichzeitig eine Herausforderung für die Tafeln.

"Zur Zeit geht es uns ganz gut, aber wer weiß, was kommt", so Breeger. Mit dem Ukrainekrieg und der Corona-Pandemie habe auch niemand gerechnet. Die finanziellen Spenden, die man zwar nicht für Lebensmittel, aber für die nötige Infrastruktur verwenden könne, geben eine gute Ausgangslage.

"Aber eine Person, die regelmäßig Fahrten übernehmen kann - die ist weiter dringend gesucht."