Gerissene Fäden, und ein Versuch der Heilung
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Geschrieben von Armin Wühle
Versammelt ist eine Gruppe von rund zwanzig Menschen - ein Bruchteil derer, die später durch die Goslarer Innenstadt ziehen werden. Vertreter:innen der katholischen Gemeinde führen durch die Andacht. Sie sprechen von Mut und Nächstenliebe, gestehen Fehler im Umgang ihrer Kirchen mit queeren* Gläubigen ein. Der Regenbogen, gleichermaßen Symbol des Christentums wie der queeren Bewegung, sind auf ihren Gewändern präsent.
Spätestens, als eine Gitarre zum gemeinsamen Singen einlädt, schießen mir Tränen in die Augen - von dieser Reaktion bin ich selbst überrascht. Ich bin nicht nahe am Wasser gebaut, in Fragen zu Gott und der Welt eher nüchtern veranlagt. Und doch nimmt mich das Ganze mit. Bald kann ich ein lautes Schluchzen nur mit Mühe unterdrücken.
Woher dieses Gefühl kommt, kann ich selbst mit Abstand nicht ganz ergründen. Freude über einen innerkirchlichen Prozess, der zu einer Veranstaltung wie dieser führt? Hoffnung, dass ein solcher Moment der Geborgenheit auch mich einschließen kann? Trauer darüber, dass in mir dennoch ein Faden gerissen ist, von dem ich glaube, dass er nicht wieder hergestellt werden kann? Verbitterung, dass andere den Faden offensichtlich noch besitzen - und dafür kämpfen müssen, dass andere ihn nicht abschneiden?
Wahrscheinlich von allem etwas. Wahrscheinlich vieles mehr.
Als sich die Andacht auflöst, gehe ich zügig den Vititorwall hinunter zum Startpunkt der Demonstration. Manchmal sind wir selbst am meisten überrascht, welche Momente etwas in uns zum Schwingen bringen.
Später wird es in der Goslarschen Zeitung heißen, die Menschen seien "maximal diszipliniert" durch die Straßen gezogen (welche Horde hatte der Autor denn erwartet?). Der Nachmittag wird laut, locker, sonnig, rund 800 Teilnehmende sind dabei. Dass der Demonstrationszug durch die Innenstadt zieht, dass er inmitten des Jakobikirchhofs eine Bühne erhält, ist ein starkes Zeichen der Stadt.
Gerade in Kleinstädten, denen viele queere Menschen nach der Schulzeit den Rücken kehren, weil sie gelernt haben, sich in der Anonymität der Großstadt sicherer zu fühlen - gerade in diesen Kleinstädten sind CSDs von unschätzbarer Bedeutung. Das bestätigen Gespräche mit lokalen queeren Initiativen, die ich an jenem Tag führe. Das bestätigt meine eigene Erfahrung, geboren auf dem Land, verprellt in die Großstadt.
Als ich nach Hause gehe, hallt vieles in mir nach. Für Außenstehende ist ein CSD ein buntes Spektakel - das ist es auch, aber es ist eben mehr als das. Von meinem Küchenfenster blicke ich in den Neuwerkgarten. In Erinnerung bleibt vor allem das Gespräch mit mir selbst, das ich dort geführt habe.