Die Heilpflanze vom Klusfelsen

- Sabine Rieckhoff

Die Hortensien und Hortensen, die Nachfahren der Nonnen und Stiftsdamen des Kloster Neuwerks: sie alle möchte ich hier vorstellen, porträtieren, nicht nur weil sie es verdienen und das Stipendium Novum Opus überhaupt möglich gemacht und erweckt haben. Auch weil sie Menschen sind, die Goslar alle auf ihre Weise prägen und von denen es viel zu erfahren gibt. Heute Sabine Rieckhoff, Goslarerin mit Fantasie, Herz und grünem Daumen.

Geschätzte Lesezeit: 15 Min

Geschrieben von Marie-Luise Eberhardt

„Ich denke, Geschichten sind für ein Kind wichtig, um die Vorstellungskraft und Fantasie zu entwicklen, zu träumen und auch um Wunder zu erleben.“ - Sabine Rieckhoff

Sabine hat mir eine Kette unters Kopfkissen gelegt und einen Gebetsspruch von Gabriele für meine erste Nacht in der WortWerkWohnung. Sie war mit Heidi für die Gestaltung der Wohnung verantwortlich und fragte in der ersten Woche gleich nach, ob noch was fehlt. Bereits Anfang September lädt sie mich zum Kaffeetrinken in ihren herrlichen Garten ein.

 

Ich bringe selbstgebackenen Birnenkuchen mit und Sabine steuert Getränke und die Sahne bei -nix geht hier ohne Sahne, habe ich in meiner Goslarzeit gelernt. Im Hängestuhl auf der Terrasse vor ihrer Wohnung sitze ich, während Berner Sennenhund Falko mich erst misstrauisch, irgendwann gelassen beäugt. Im Garten fällt mir gleich ein Gesicht im Stein auf, eine Skulptur, die Sabine vor zehn Jahren mal bei einem Steinhauerkurs gemacht hat. Mich berührt das halbbearbeitete Steingesicht sehr, gerade durch die Unvollkommenheit entsteht ein tiefer Ausdruck. Leider bleibt es bisher die einzige Steinskulptur von Sabine.

Das Immobilienbüro Ihres Vaters hat Sabine 2021 in die Hände eines würdigen Nachfolgers übergeben. Es hat sich so ergeben, sagt sie. Über 30 Jahre war sie in der Immobilienbranche tätig. Nun hat sie den Stress und die Wochenendtermine hinter sich gelassen. Mit der gewonnenen Zeit beschäftigt sie sich beispielsweise intensiver mit Heilpflanzen, aber dazu später mehr. Hund Falko gewinnt natürlich auch durch den Ruhestand zusätzliche Zeit mit seinem Frauchen.

„Ich genieße das sehr, dass ich mit meinem Hund in der Natur sein kann, bei Wind und bei Wetter. Momentan wünsche ich mir mal wieder so einen richtigen Regenspaziergang, wo wir beide klatschnass sind und ich meine Gummistiefel an hab. Das Geräusch des Regens auf den Blättern.“, sagt sie Ende Oktober als wir uns erneut für unser Gespräch und zum Spazieren treffen. So machen wir uns los zu Sabines besonderem Goslarort, dem Petersberg samt Klusfelsen, Lindenbaumstamm und der Ruine des St. Peters Stift. Es ist strahlendes Herbstwetter und die Bäume leuchten in Gelb- und Rottönen um die Wette. Sabine hat noch etwas Besonderes mit mir vor. Sie möchte eine kleine Linde pflanzen, da wo der abgeschnittene Stamm der einst riesigen Linde stand, die sie noch aus Kindheitstagen kennt. Sabine ist nämlich in Goslar geboren und aufgewachsen.

Liebevoll gräbt sie mit der mitgebrachten Pflanzkelle ein Loch zwischen den Wurzeln, legt den Setzling hinein und bedeckt die Wurzeln mit Erde. Jetzt noch wässern und der Jungpflanze die Geschichte dieses Ortes mit auf den Weg geben.

„Als Kind bin ich oft mit meinem Großvater und seinen Hunden spazieren gegangen und eines Tages sind wir auch zum Klusfelsen gegangen. Am Klusfelsen stand eine wunderschöne Linde und mein Großvater erzählte mir eine Geschichte dazu. Er sagte: 'Wusstest du eigentlich, dass unter der Linde eine Zofe begraben ist?' 'Nein, wirklich?' 'Ja, die Geschichte ist ganz traurig. Kaiserin Agnes residierte mit ihrem König Heinrich III. in der Kaiserpfalz und eines Tages vermisste sie ein wichtiges Schmuckstück. Ich meine es war ein Ring. Alle suchten danach, aber es wurde nicht gefunden. So bezichtigte sie ihre Zofe des Diebstahls und ließ diese zum Tode verurteilen. Als die Zofe gestorben war, fand die Königin eines Tages, als sie aus dem Fenster blickte, in einem Nest den Ring wieder. Sie hatte ihn nur gefunden, weil die Sonne darauf schien und der Ring das Licht reflektierte. Es war nicht die Zofe, sondern die diebische Elster gewesen, die den Ring genommen hatte. Da war die Kaiserin Agnes zutiefst betrübt, weil sie die Zofe zu Unrecht verdächtigt und diese auch noch in den Tod geschickt hatte. Und weil sie ihre Schuld wieder gut machen wollte, ließ sie auf dem Petersberg den St. Peters Stift bauen.“

Sabines Großvater hat viele Geschichten erzählt, an manche wie die über Kaiserin Agnes und ihre Zofe erinnert sich Sabine noch, bei anderen weiß sie nur noch Umrisse.

„Man brauchte nur sagen: Opa erzähl doch eine Geschichte. Und schon hatte er eine parat. Manchmal wilde Räuberpistolen und manchmal auch romantische Geschichten. Am liebsten mochte ich aber die Geschichten vom Mann im Mond, der viele Abenteuer bestand. Mein Großvater sagte zu uns, wenn wir in den Urlaub nach Österreich zum Mondsee fuhren, guckt mal Kinder: da oben ist der Mann im Mond, der Klacki.

Ihre Großeltern wohnten in der Altstadt, während Sabine und ihre beiden Schwestern im Neubaugebiet aufwuchsen. An den Wochenenden waren sie dann oft zu Besuch bei den Großeltern und ganz wild darauf wieder eine lustige Geschichte vom Großvater zu hören. Am liebsten lauschten sie den Geschichten am Morgen im großen Bett der Großeltern, in das auch die zwei Langhaardackel mit hinein durften. Die Gemütlichkeit ist längst spürbar. Dann erzählt Sabine noch lachend vom Vaterkuchen, der immer im Haus war. "Ein einfacher Rührkuchen in einer runden Form mit Puderzucker verziert: den meine Oma nur für ihren Mann gebacken hat. Wir Kinder durften auch ein Stück mit Kinderkaffee essen - köstlich als Stippkuchen in Milch."

Diese Kindheitserinnerungen und die Geschichten sind für Sabine Gründe für die Wahl ihres Ortes in Goslar. Aber sie erzählt mir sogleich noch einen weiteren Grund, als wir an die Kluskapelle treten und durch die goldbemalten Gitterstäbe ins Innere der Kapelle sehen. Früher sei noch gar kein Gitter davor gewesen, beschreibt mir Sabine. „In der Osternacht ist die Kapelle auf und da findet auch ein Gottesdienst statt, halb 6 Uhr früh. Da holen die Konfirmanden das Osterwasser bei einer Quelle in der Nähe und dann beginnt, wenn die Sonne aufgeht, der Gottesdienst. Dann trinkt man das Osterwasser und dann wird das Heilige Abendmahl gehalten. Das ist sehr besonders.“

Ganz im Stile ihres Großvaters erzählt sie mir auch noch eine Geschichte zu der Kerze der Kluskapelle. „Diese Kerze habe ich 2021 mit Falko zusammen gefunden. Es war das Osterfeuer und da sind wohl Jugendliche oder Kinder gekommen und haben die Kerze gestohlen. Das wusste ich aber nicht. Ich war mit meinen Hund spazieren Richtung St. Annen und sah die Kerze an einen Baum gelehnt. Ich habe sie sofort erkannt und mit nach Hause genommen. Dann habe ich mich an die Stephani-Gemeinde gewandt und sie ihnen gebracht, damit sie sie wieder hier her stellen können.“

Sabine liebt Geschichten eben nach wie vor und so wundert es mich nicht, als sie mir erzählt, dass schon seit geraumer Zeit die Idee zu einem Kinderbuch in ihrem Kopf schlummert. Sie ist auch seit Anbeginn mit ihrer Schwester Gabriele Teil meiner Schreibwerkstatt und hat schon das ein oder andere Märchen geschrieben. Auch zu dem Holzvogelkäfig, den wir bei unserem Spaziergang zufällig im Wald finden und mitnehmen.

„Ich denke, Geschichten sind für ein Kind wichtig, um die Vorstellungskraft und Fantasie zu entwicklen, zu träumen und auch um Wunder zu erleben. Das gesprochene Wort und die Geschichten, die man nie verliert, sein ganzes Leben nicht.

Ich hatte als Kind so eine Märchenplatte. Von Hans Clarin vorgelesen, der hat so eine tolle Stimme. Man ist wie in eine andere Welt eingetaucht. So dachte ich mir, mensch, ich habe als Kind gerne Geschichten gehört, ich möchte den Kindern das auch geben.“

Derzeit liest Sabine auch wieder mehr, aktuell einen irischen Roman von Nuala O'Faolain „Ein alter Traum von Liebe“. Sie ist erst am Anfang der Geschichte aber umreißt diese wie folgt: „Eine Frau, genauer eine Irin, geht zurück in ihre Heimat, nachdem sie in London gelebt hat und Auslandskorrespondentin war. Sie recherchiert an einer Geschichte über die Scheidung eines Grundbesitzers, dessen Frau sich auf eine Affäre mit dem Stallburschen eingelassen hat. Mehr weiß ich noch nicht. Bin gespannt wies weiter geht.“

Weg von der Kindheit und der Fantasie kommen wir wieder auf Goslar zu sprechen und Sabine erzählt mir ein wenig von ihrer Zeit in Hannover, wo sie ihre Ausbildung absolvierte. Danach kehrte sie zurück nach Goslar. „Mir hat die Großstadt gar nicht so gefallen, außerdem ist meine Familie hier und ich finde die Natur schön. Und auch das Kleinstädtische, dass man fast jeden kennt, so persönlich. Das hat mir damals schon gut gefallen. Man hat auch nicht so viele Wege, kann alles zu Fuß erreichen. Früher wars auch so, dass es hier ganz viele Ausgehmöglichkeiten gab. Da konntest du jeden Wochentag woanders hin.“ Während ich Goslar erst seit kurzem kenne, und das aktuelle Kneipen- und Gaststättenangebot lobe, erzählt Sabine, wie es früher war. Ohne Handy ist sie oft einfach am Abend los gegangen und hat immer ein bekanntes Gesicht getroffen. Natürlich sei sie heute auch einfach weniger abends unterwegs und ruhiger geworden, aber einige Lokale gebe es eben auch nicht mehr. Wie hier in der Nähe das Ausflugslokal „Zur Bleiche“, wo auch noch zum Tanztee eingeladen wurde. Was ihr an Goslar aber auch sehr wichtig sei, ist der Kaiserring. „Das ist für mich immer noch ein ganz besonderes Ereignis, auch dass so viele Kunstkenner und Kunstfreunde nach Goslar kommen. Die Kaiserring-Übergabe und danach die Ausstellungseröffnung sind für mich der jährliche Meilenstein. Deshalb lebe ich auch gerne hier, weil Kunst und Kultur hier so einen großen Stellenwert haben, das ist mir wichtig.“

Durch ihren Beruf in der Immobilienbranche kennt Sabine sich natürlich auch bestens in den Goslarer Gemäuern aus. „Für mich haben die Häuser in der Altstadt eine Persönlichkeit, eine Ausstrahlung, das war schon eine sehr bereichernde Arbeit, auch zu gucken, was da hinter der Tür ist. Kleine Gartenparadiese und auch der Hauch der alten Zeit, vom Mittelalter. Die Bergmannshäuser und auch die Patrizierhäuser, die Kemenaten, die aus Stein gemauert sind und meistens Sitzbänke haben und einen Kamin im Raum. Oder auch die alten Küchen wie in Neuwerk, die schwarze Küche. Das ist schon sehr interessant gewesen.“, erzählt sie. Sabine stellt auch den Kontakt zu Professor Schnug und mir her und so konnte ich mir die Glucsburgh über der Abzucht ansehen, die Renovierung hatte Sabine mit verfolgt. Sie erzählt über die Geschichte des Gebäudes, wie eine große Flutwelle anno dazumal wohl den Turm des Wehrgangs weggerissen hatte, weshalb nur noch der Wehrgang erhalten blieb. „Da hat Professor Schnug sehr viel recherchiert und mit der Denkmalpflege zusammen gearbeitet. Das war für die bauhistorisch natürlich auch äußerst interessant, er hat das wahrhaft künstlerisch und stilgerecht hergerichtet mit der alten Wehrmauer, die man noch sehen kann.“

Was für sie auch schon als Kind eine Bedeutung hatte, sind Pflanzen. Diese Affinität habe sie nie verloren. Ihr Opa, selbst Holzhändler und Naturfreund, hatte auch dabei seine Finger im Spiel und ihr bei den Spaziergängen alles Mögliche über die Natur beigebracht. Darüber unterhalten wir uns auf dem Weg zur Stiftsruine St. Peter. „Ich beschäftige mich schon seit Jahrzehnten mit Pflanzen und deren Heilkräften. Man muss sagen, dass die Leute im Mittelalter ja keine medizinische Versorgung hatten, das Heilwissen lag alles in den Klöstern. Jedes Kloster hatte ja einen Kräutergarten, wo sie ihre Heilkräuter anbauten und auch ihr Gemüse und Obst. Das war für die Menschen damals die einzige Station, an die sie sich wenden konnten.“

Die Arbeit der Nonnen findet Sabine besonders spannend, als Nonne zu leben, war für sie aber nie eine Option.

„Da ist mir meine Freiheit zu heilig für.“

Selbst hatte Sabine sich Bücher besorgt, viel zur Heilkraft von Pflanzen gelesen und stellt längst nicht nur Marmeladen und Sirup her, sondern auch Salben, Ölauszüge und Sauerhonig. Ich durfte auch schon in den Genuss kommen und hoffe mir auch irgendwann mehr Zeit für das Heilpflanzenstudium nehmen zu können. Was für eine Bereicherung. Sabine freut sich, dass sich wieder mehr und mehr Menschen mit der Natur beschäftigen, es Kräuterwanderungen gibt oder Waldbadenkurse. Besorgt ist sie aber nach wie vor über den Zustand der Wälder, die Trockenheit.

Bei der Stiftung Maria in Horto ist Sabine dabei, seit Pastor Böse sie „gefischt“ habe. „Wir hatten gute und schwere Zeiten, als er gestorben war, wussten wir gar nicht, wo die Reise hingeht. Aber jetzt sind wir so zufrieden, wie sich dieses Projekt gestaltet. Ich denke das Stipendium ist für uns alle und für die Stadt ein Geschenk.“ Durch das WortWerk-Projekt habe sie sich nochmal mehr für Literatur interessiert und deshalb ist Sabine auch bei der Schreibwerkstatt dabei.

Nachdem wir uns die Ruine des St. Peters-Stift genau angeschaut haben und Sabine mir darüber berichtet, wie angesichts der Bedrohung durch die Braunschweiger 1527 das Stift von den Goslarer*innen selbst abgetragen wurde, setzen wir uns auf eine der zwei Bänke und blicken auf die Kaiserpfalz in Abendsonne gefärbt. Ich frage, ob ihr noch etwas zu ihrer Person wichtig sei: „Wir sollten jetzt den schönen Blick unter der alten Eiche genießen“, schlägt Sabine vor.

Da sitzen wir, schauen auf Goslar und sprechen auf dem Weg zu ihrer Wohnung lieber weiter über die anderen, Gott und die Welt eben. Sabine, Falko und ich werden wieder spazieren gehen, im Schneeparadies um Hahnenklee und Kuchen gibt’s da sogar auch.