Bergfest-die Hälfte ist um

Bergfest. Ja, es ist schon so weit. Ich schwelge ein wenig. Ein wenig in Erinnerung: meine ersten zwei Monate Goslar. Muss selber staunen und ja ein wenig melancholisch sein, denn die Zeit verfliegt zu schnell. Oh und da macht sich fast schon Panik bemerkbar: ich will noch so viel machen und sehen, schreiben und mit Menschen sprechen. – Versuch einer Zusammenfassung.

Geschätzte Lesezeit: 16 Min

Geschrieben von Marie-Luise Eberhardt

Eigentlich schreibe ich gerade an zwei anderen Texten und weitere Wortideen befinden sich im Kopf und sprechen miteinander. Aber es ist immerhin Bergfest – die Hälfte ist rum, die Hälfte meines Novum Opus Stipendiums. Das ist ja wohl der beste Anlass ein paar Worte zu finden. Bisher kam ich nämlich nicht hinterher. Auf Instagram schreibe ich am 15. September: Mit Worten komme ich all den wärmenden Begegnungen, all den neuen Erfahrungen, Herausforderungen, Glitzermomenten nicht nach.

 

Marie-Luise Eberhardt
Marie-Luise Eberhardt

Blick über Goslar

Mitte August, genauer Montag, 15. August 2022, lande ich in Goslar. Beim Auspacken empfängt mich ein Regenschauer, in dieser trockenen Zeit ja wohl etwas zum Feiern!

In meiner ersten Woche erkunde ich viel: Altstadt und Umgebung, Neuwerkkirche und die Räume im ehemaligen Kloster, spiele ein wenig Klavier, schreibe für die Stipendienübergabe, besorge Nahrung und ein paar Pflanzen, lerne zum ersten Mal den Madrigalkreis der Neuwerkkirche kennen und beginne den Klosterwanderweg. Auch die Hortensien begleiten mich beim Ankommen: Anja empfängt mich am Montag in ihrer Mittagspause, gibt mir die Schlüssel und zeigt mir noch viel mehr. Sabine F. klingelt spontan und plauscht mit mir am Tisch und Heidi holt mich ab zu einem Bad im Herzberger Teich. Auf der einen Seite kann ich mein Glück kaum fassen und auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Momente der Einsamkeit, des Fremdsein. Ist es mir zu eng hier, in der Kleinstadt, seit Jahren in einer Großstadt lebend?

Dann kommt die große Aufregung: die Stipendienübergabe in der Neuwerkkirche bei der ich nicht nur eine Rede halten will, sondern mit Jens Kegel eine Wort-Saxophon-Improvisation ohne Probe realisieren möchte. Ja: ich war ganz schön aufgeregt! So viele neue Menschen, auch die Oberbürgermeisterin Urte Schwerdtner war dabei und hat mich in ihrer Rede quasi eingeladen, meinen Goslaraufenthalt zu verlängern. Herzliche, starke, einladende Worte begegnen mir den ganzen Spätnachmittag. Sabine Fontheim spricht zurecht über die kämpfenden Hortensien und Hortensen, die das alles hier möglich gemacht haben. Stefan Roblick spricht den Segen und heitere Worte, Jens Kegel überzeugt mit einer unkonventionellen Showmasterrede, in der er mich tatsächlich mit Goethe vergleicht. Nun ja, da denkt das Weimar-Ich: sowas gehört sich nicht. Aber die Ernsthaftigkeit ist ja zum Glück nicht beabsichtigt, sondern der Vergleich dient der Erheiterung, Glück gehabt. Der Madrigalkreis singt sogar extra noch für mich „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ und ich erhalte nicht nur einen Novum Opus Stempel, sondern auch noch einen Füller mit Gravur. Ich fühle mich als wandelndes Honigkuchenpferd mit Dankbarkeitsstreuseln, bekomme richtigen Lachmuskelkater.

So einige Goslarer*innen lerne ich kennen, die mir in den nächsten Wochen noch öfters begegnen werden. An diesem Abend vergesse ich die meisten Namen wieder. Die freudige Aufregung umhüllt und lässt die Veranstaltung so schnell vorbei gehen.

Meinen Eltern zeige ich in den nächsten Tagen Goslar, besuche die Steinbergalm zum ersten Mal und den Marktkirchenturm, wir erwischen sogar durch Zufall ein Violinenkonzert der Konzertarbeitswochen im St. Annenhaus, was wie gemalt mit Kerzen erleuchtet ist und bereits ohne Musik eine Magnetatmosphäre schafft.

Über welche Ereignisse und Begegnungen möchte ich nun springen? Kurz die Oberfläche beschreiben, wenigstens ein Hauch der Erinnerung festhalten, um nichts aber auch gar nichts zu vergessen? Die Tiefe braucht mehr Zeit.

„Ich dachte gerade daran: die Kirche bleibt. Gibt Sicherheit. Das Leben läuft und läuft, aber dieser Ausblick hier auf meiner Fensterbank bleibt.

Auch wenn er sich je Wetterlage; Licht und Jahreszeit verändert. Eine Konstanze.“, schreibe ich bereits am 17.August.

Musik prägt die ersten Wochen: ob das südamerikanische Straßenduo, dem ich vom Fenster aus lausche, Konzerte des Internationalen Musikfests, zu denen ich von Dorothee und Hartmut Prüssner tatsächlich einen Festivalpass erhalte, oder eben die Konzertarbeitswochen von welchen ich noch eine Abendliche Serenade im Hotel Alte Münze erlebe. Wow, ich befinde mich im Goslarerleben, so richtig!

To be continued! Der Text wird noch ergänzt.

Hier nun die Ergänzung! Konnte es am Samstag nicht abwarten, auf den Tag genau, am 15. Oktober, diesen Text in die Welt zu setzen. Apropos Welt: mein Horizont konzentriert sich nicht nur auf Goslar, auch wenn die Jubiläumsstadt gerade mein Fokus ist. Ich denke da beispielsweise an die so mutigen Proteste im Iran, an die Menschen, die ihr Leben für den Kampf um Freiheit hergeben, vor allem für den Kampf um die Freiheit der Frauen*. Selbst bin ich 2017 im Iran Menschen wie diesen begegnet und denke so gern an die Erfahrung und vor allem an die Begegnungen zurück. Von daher ist es nicht irgendein Protest im fernen Iran, sondern einer der aufrüttelt, auf die eigene Freiheit dankbar und wachsam blicken lässt. Nur ein Thema von Vielen im Kopf: die Welt bleibt natürlich auch nicht in meiner Klosterwohnung stehen, sondern überschlägt sich fast. Aber schließlich soll es in diesem Text vor allem um meinen Rückblick auf zwei Monate in Goslar gehen.

Neben all den besonderen Kulturveranstaltungen fallen mir dabei gerade auch die kleinen stillen Momente und Begegnungen ein. Wie mein Spaziergang mit Sabine R. und Hund Falko über den Klusfelsen zum Petersberg mit der Ruine der Stiftskirche St. Petri. Geschichten werden mir erzählt und ich atme sie ein in dieser fast mystischen Atmosphäre der Steinruine, blicke auf die Kaiserpfalz und stelle mir vor wie das Leben hier früher gewesen ist. Was der Klusfelsen wohl alles erzählen könnte?

Das Fest der Kulturen war ein nächstes Highlight, was ich erleben durfte. Der Marktplatz: erfüllt von Stimmen, Musik und dem Duft von allerlei Köstlichkeiten. Zig Stände aus unterschiedlichen Kulturkreisen mit leckeren Speisen und Kleinigkeiten und der Einladung sich zu unterhalten, sind aufgebaut wurden. Am Stand von Sri Lanka habe ich sogar einen neuen Goslarkontakt knüpfen können. Wie schön.

Gleich darauf folgte das Altstadtfest mit einem zünftigen Bieranstich von Oberbürgermeisterin Urte Schwerdtner, mein erster Bieranstich überhaupt. Und wieder ging es ab in Goslar mit Bühnen und mächtig Programm. An diesem Mittwochabend begann auch das Videomapping an der Kaiserpfalz, was wirklich beeindruckend und voll Ästhetik die Geschichte der Stadt zusammenfasst.

Am Vormittag dieses siebten Septembers hatte ich aber noch einen anderen tollen Programmpunkt erleben dürfen: die Marktkirchenbibliothek, bereits 1535 gegründet, wird mir von Herrn Liersch und Herrn Gunkel gezeigt. Ich bin hellauf begeistert und vor allem beeindruckt. Welche bedeutenden alten Werke dort zu finden sind: wie das erste Gemeinde Gesangbuch von 1524 oder die Septemberbibel von 1522, die erste Ausgabe des Neuen Testaments übersetzt von Luther. Allein der Anblick der großen, schweren (bis zu 30 Kilo!) alten Bücher lässt mich ganz ehrfürchtig werden. Was für einen kulturellen und gesellschaftlichen Wert so ein Buch damals besaß. Und heute? Stapeln sich Bücher in Second Hand Läden, werden auf die Straße gestellt oder verschwinden digitalisiert in den Weiten des WorldWideWebs.

Mein Besuch der Marktkirchenbibliothek war auch mein erster im Kulturmarktplatz, der z.B. auch Raum für Seminare mit Jugendlichen bietet. Und solch eines, freiwillig geleitet von Herrn Seyfarth, darf ich mir gleich mit anschauen. Die Jugendlichen dürfen zu selbstgewählten Themen wie Hexenverfolgung oder der Entdeckung Amerikas in den Faksimiles der alten Bücher recherchieren. „Das war toll mal nicht nur im Internet zu gucken, sondern richtige Bücher in der Hand zu haben.“, meint z.B. einer der Gruppe in der Auswertungsrunde. Wissen und Geschichte weitergeben, das ist die Devise!

Hah, nun hätte ich beinahe meine erste Schreibwerkstatt übergangen, die fand nämlich einen Tag zuvor statt. „Die erste Schreibwerkstatt – wirklich eine Begegnung.“, schreibe ich in mein Goslarbüchlein. Wir haben uns gegenseitig interviewt oder einfach miteinander gesprochen, uns kennengelernt oder wer wollte, konnte über bestimmte Themen, auf Schnipsel geschrieben, sprechen. Eine mir wichtige Art der Recherche! Was soll ich sagen: Einfach eine herrliche Gruppe, die bis jetzt jedes Mal wächst und allen nicht nur Inspiration und Schreibaustausch verschafft, sondern auch viel Freude.

Hui langsam wird es viel. Viel Text. Nicht wahr? „So viele Eindrücke. Bin sehr dankbar für diesen Tag. Belebt, aber nicht stressig. [auf der Liebesbank bei Hahnenklee setze ich fort]

4 Wochen bin ich schon in Goslar. Es geht zu schnell vorbei.So viel erlebt. Wertvoll, intensiv, privilegiert und einfach wunderschön.“

Kurzes Innehalten und dann geht’s volle Kanne weiter. Eine Führung von Wald für morgen e.V. durch die grandiose Ausstellung im Mönchehaus oder die Führung durch die Glucsburgh, persönlich von Prof. Dr. Ewald Schnug – so ein Haus habe ich noch nie gesehen. In jeder Ecke, am Boden, der Decke, überall beeindruckende Details, Raffinessen und Überraschungen, mit denen auf das alte Gemäuer reagiert wurde. Im Gespräch erfahre ich auch viel von den aufwändigen Renovierungsarbeiten, Möbeln von einer Firma aus England, die bei jedem Unikat irgendwo eine Holzmaus als Verzierung mit versteckt oder der Autorin Ginka Steinwachs. Auch der Rapunzelzopf wird für eine Schulklasse im Park der Kaiserpfalz stehend heruntergelassen. Hier wohnen allein schon wieder so viele Geschichten, warum hat der Tag nicht 48 Stunden?

Blick vom Neuwerkturm: Ich durfte sogar die alten Glocken läuten.

Mitte September können die Leiterin der Kulturabteilung Marleen Mützlaff und ich unser Treffen nachholen und sie nimmt sich viel Zeit mir den Kulturmarktplatz genau zu zeigen. Ich finde wirklich toll, was für ein vielseitiger Kulturort dort entsteht. Mit dem Stadtmuseum, der Marktkirchenbibliothek, dem KuCaf, diversen Räumen für Veranstaltungen, Büros, dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek gibt es -mal wieder- viel zu entdecken in Goslar! Auf jeden Fall frischer Wind, den Marleen und das ganze Team da verbreiten. Erinnert mich auch immer wieder an die vielen Frauen, die diese Stadt schon so früh geprägt haben, beispielsweise auch Helena, die Frau von Vogt Volkmar, durch welche im 12. Jahrhundert die Neuwerkkirche, St. Maria in horto sowie das dazugehörige Kloster gebaut wurden. Die Klostergeschichte hatte die Gruppe „Wein, Weib und Gespräch“ auch Ende September im Gottesdienst näher gebracht.

In diesen Wochen war ich übrigens auch im Ratsgymnasium zu Besuch und konnte eine Schnupperstunde bei der 7c von Christina Meyer halten, ihnen einen Ausschnitt aus meinem AudioFeature geTEILt vorspielen und sie von der Idee begeistern ein Feature für Kinder zum Thema „Geschichtsbewusstsein OstWest- damals und heute“ im November zu erarbeiten. Ich bin begeistert von den Ideen und der Freude mit denen die jungen Jugendlichen sogleich reagierten. Und für mich war es auch Premiere vorne vor den Stuhlreihen zu stehen und nicht wie in der Schulzeit selbst auf dem Stuhl zu sitzen. Auch in der Realschule Goldene Aue durfte ich zu Gast bei der sympathischen Radio-AG von Frausein und mich ein zweites Mal an diesem Tag interviewen lassen. Vorher war nämlich ganz spontan Philipp Nöhr vom NDR bei mir in der Klosterwohnung und ich zeigte ihm die Neuwerkkirche, den Blick vom Marktkirchturm, das Kuma und natürlich das Glockenspiel und beantwortete fleißig seine Fragen.

Bei der Liebesbank - Hahnenklee

So einmal Durchatmen: es kommt noch was, was ganz Großes und das auch noch im Doppelpack! Am 29. September wurde abends in der Kaiserpfalz der Festakt zum 1100. Stadtjubiläum zelebriert und die Festrede hielt Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel. Mich interessieren berühmte Personen nur so semi, aber Angela Merkel hat uns alle 16 Jahre begleitet. Egal was ich nun konkret von ihren politischen Entscheidungen halte und gehalten habe, sie war präsent und ich habe großen Respekt vor ihrer Arbeit als Bundeskanzlerin. Und da kommt sie mit Oberbürgermeisterin Urte Schwerdtner, dem Goslarer Ehrenbürger und ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel und natürlich Bodyguards in den Raum. Alle stehen auf und eine feierliche Atmosphäre macht sich schlagartig breit. Merkels Rede wurde bereits lokal und überregional besprochen und kommentiert, ich habe mich über ihre Würdigung der „lebendigen Bürgergesellschaft“ in Goslar gefreut und ihren Weitblick auf das Auf- und Ab der Geschichte nicht als Hinhalten, sondern als Geschichtsbewusstsein verstanden. „Sehr bewegend.“, fasse ich es kurz zusammen, da natürlich noch Absätze der Auseinandersetzung folgen könnten, aber wir befinden uns hier ja nach wie vor in einem Text, der eine Übersicht über meine ersten zwei Monate geben möchte, also an der Oberfläche läuft.

Ruine auf dem Petersberg

Und da steht er schon vor der Tür: der Kaiserring. Die Stipendienübergabe von Christian Holze habe ich bereits überflogen und nun wird es wieder ganz feierlich: mein erstes Kaisermahl. Sabine Fontheim gibt mir krankheitsbedingt ihre zwei Karten ab und so begleiten mich Florian von den Hortensien und mein Mann Oussama Serestou. Wie schön ihn nun auch in Goslar mit dabei zu haben. Der Saal im Großen Heiligen Kreuz ist fein mit Tischen, Blumen und Kerzen dekoriert. Serviert werden gehaltvolle Reden, feine Speisen, guter Wein, nette Gespräche und ein strahlender Sir Isaac Julien, der einfach knallsympathisch das Mikrofon greift und sich ergriffen von der familiären Atmosphäre herzlichst bedankt. Eine lange Nacht mit neuen und alten Bekannten, Gesprächen und einer neuen Mitbewohnerin Frau Maus, die sich nachts halb 2 in der Lebendfalle findet.

Next Kaiserringverleihung! Da denke ich sofort an Urte Schwerdtners Worte über den Wert der kulturellen Bildung und der Garantie, dass Kultur zukunftsweisend in Goslar bleibt. Ja und Musik: Jazz zu Ehren von Sir Isaac Julien und schwups hüpfe ich rüber zu seiner Ausstellung im Mönchehaus, weil bei dieser die Worte über ihn und seine Kunst für mich greifbar werden. Ich bin so begeistert und inspiriert von seiner poetischen Filmsprache mit Tiefgang. Was für ein Genuss mit Horizonterweiterung. Danke Goslar und vor allem Danke Maria in horto!

Frankenberger Kirche-Besichtigung mit Doro

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