Die Kemenate

In der Schreiberstraße liegt ein besonders schmuckes Haus von 1518, welches von Wolfgang Korth liebevoll gepflegt wird. Glücklicherweise durfte ich Dorothee Prüssner Mitte November in die alten Gemäuer begleiten und Herr Korth nahm sich viel Zeit, zeigte uns das Haus und erzählte dessen Geschichte. Inspiriert von jenem Besuch ist diese Kurzgeschichte entstanden.

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Geschrieben von Marie-Luise Eberhardt

Sie ist auf dem Weg zurück. Die engen Gassen werden vom Mond beschienen, hinter ihr Schritte, ein Schatten. Sie geht schneller, biegt ab in eine Straße, ist es die richtige? Schreiberstraße steht am Schild. Sie erkennt das Tor, obwohl sie lange Zeit nicht mehr davor stand, drückt die Klinke und hat Glück: das Tor ist nicht abgeschlossen. Schnell geht sie hinein, schließt das Tor rasch hinter sich. Da ist die Eingangstür auf der rechten Seite, der Türknauf geformt wie ein Pferd. Aber die Tür bleibt verschlossen. „So ein Mist!“, flucht sie leise, aufgeregt. „Mein Mist kann es nicht sein!“, ruft das Pferd empört. „Bitte?“ „Ist ja gut, du kannst reingehen.“ Die Tür öffnet sich abrupt und schließt, nachdem sie reingegangen ist, von selbst.

Sie kommt in ein Treppenhaus, hell erleuchtet. Die zwei Türen zu ihrer Linken sind verschlossen, so geht sie die erste Treppe hinauf. „Guten Abend die Dame. Wen dürfen wir begrüßen?“ Sie erschrickt. Die Gemälde an der Wand sprechen zu ihr. Auf dem Einen ist ein Mann im schwarzen Anzug, auf dem anderen eine Frau im beigen Kleid und Haube abgebildet. „Wer sind Sie denn überhaupt?“, fragt sie unbeholfen. „Also nein, kein Benehmen. Ich habe die Frage zuerst ausgesprochen.“ „Schon gut Liebes, wir sind die Hauseigentümer. Anno dazumal, genauer 1518 ist dieses Steinhaus erbaut worden. Ich weiß noch wie meine Füße es das erste Mal betraten und wie entzückt ich war die Kemenate mit meinen eigenen Augen zu sehen. Was suchen Sie hier überhaupt?“ „Ich musste entkommen.“ „Vor wem?“ „Der Zeit.“ Die Stimmung ändert sich schlagartig. „Ach meine Liebe, da sind sie hier vollkommen richtig. Gehen sie nur hinauf. Das Admiralchen wird sie gewiss davor bewahren.“

„Ein Admiral?“ Ist sie hier bei Alice im Wunderland gelandet? Schnell geht sie die nächste Treppe hinauf, die Dame ruft ihr noch „zweiter Stock“ hinterher. Ob Gemälde lügen, fragt sie sich.

„Kehrt marsch. Und eins und zwei und eins und zwei.“ Fasziniert tritt sie an ein feines Sprossenfenster. Auf dem Regalbrett auf der anderen Seite marschiert eine Armee Zinnfiguren hin und her. Verdattert beobachtet sie das Treiben, bis das Admiralchen ihr zuwinkt und auf die Tür neben dem Fenster zeigt. Sie tritt in das geschmackvoll eingerichtete Zimmer. „Setzen Sie sich doch verehrte Dame, ich komme sogleich zu Ihnen.“

Der weiße runde Sessel sieht einladend gemütlich aus, so setzt sie sich hinein und beobachtet immer noch verblüfft die Zinnsoldaten. Das Admiralchen klettert gekonnt hinab, läuft über die Holzdielen und zieht sich auf den Sessel hoch, der gegenüber von ihr steht. „Werte Dame, wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Soso, was hat Sie denn zu uns geführt, wenn ich fragen darf?“ „Die Angst.“ „Oh, jaja, diese ist mir wohl bekannt.“ „Wirklich?“ „Ja, die Angst vor dreckigen Schuhen, die Angst vor Unordnung, auch mancher Feind hat mich schon das Fürchten gelehrt.“ „Welcher Feind?“ „Die Braunschweiger, ja die Halunken.“

Das Admiralchen hält quasi einen Vortrag über den Überfall der Braunschweiger, so als wäre es wirklich dabei gewesen. Sie sitzt und schweigt, hört erst zu, sieht dann aus dem Fenster, aber wie kann das sein? Tageslicht. Vor ein paar Minuten, als sie vor dem Tor stand, war es dunkel, maximal 22 Uhr. „Was haben Sie denn, verehrte Dame?“ „Ich, es, es ist Tag?“, fragt sie ungläubig. „Ja, gewiss. Jeder Tag, ist derselbe Tag.“ „Ich verstehe nicht.“ „Das macht rein gar nichts. Wollen Sie nicht in die Bibliothek gehen, dann helfen Ihnen die Bücher beim Begreifen. Sie müssen nur durch die Tür laufen.“

Langsam kommt sie sich wie in einem Labyrinth vor, nur das sie gar keinen Ausgang finden will. Sie bedankt sich beim Admiralchen, der zurück zu seinen Zinnsoldaten schreitet. Wieder ein neues Zimmer mit alten Möbeln. Ein herrliches Sofa steht dort. Eingebettet von Bücherregalen. Sie greift in eines der Regale, beginnt zu lesen. Die Enkelin von Bernhard Schlink. Sie liest und liest, bemerkt gar nicht, wie die Zinnsoldaten ihr eine Teekanne samt Tasse auf den Couchtisch stellen und wieder in das andere Zimmer marschieren. Als sie fertig mit lesen ist, stellt sie das Buch zurück und greift zum nächsten. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Sie liest und liest, trinkt Tee, ist gebannt von den Wörtern. Schaut nicht auf. Wundert sich nicht, als auf dem Tisch plötzlich eine Schale mit Früchten steht. Isst Weintrauben, beißt in einen Apfel und holt sich das nächste Buch. Es ist ein Gedichtband von Rose Ausländer. Sie schlägt es auf mit geschlossenen Augen und findet ein Gedicht, was sie sofort anspricht. „Noch bist du da“, heißt es. Sie liest es laut vor.

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

„Wirf deine Angst in die Luft...Sei was du bist...gib was du hast....Worte verschenken...bald ist deine Zeit um...“ Sie wiederholt die Passagen einmal, zweimal. Plötzlich stimmen die blauweißen Fliesenwesen an der Wand mit ein. Wie ein Chor singen die Fisch- und Fabelwesen sanft die Worte, bis sie eingeschlafen ist. Sie träumt von ihrem Opa, der in dieser Stadt gelebt hat. Sie träumt davon als Kind von 6,7 Jahren durch die mittelalterlichen Gassen zu streunern. „Bleib nur innerhalb der Stadtmauern und dir kann nichts passieren.“ War ihr Opa zu hören. Sie liebte es aber sowieso am meisten im Garten zu spielen, unter der alten Kastanie. Wenn sie die breiten Treppen hinauf in die feine Stube mit Kamin rannte, warteten schon selbstgebackener Apfelkuchen und heiße Schokolade auf sie. Ihr Opa erzählte ihr dann die tollsten Geschichten. Manchmal auch von den Hexen des Hexentanzplatzes oder über Ritter Ramm.

Sie wacht von dem Gefühl auf, über den Kopf gestreichelt zu werden, aber da ist kein Mensch. Noch im Halbschlaf riecht sie den vertrauten Duft von frischem Apfelkuchen und heißer Schokolade. Hach wie lecker das nun wäre. Sie reibt sich die Augen und streckt sich. „Nein, was, Opa?“, ruft sie laut, nachdem sie auf den Tisch wie im Traum den frischen Apfelkuchen samt heißer Schokolade sieht. Sie wiederholt ihre Rufe. Nichts. Gleich wird sie das Haus nach ihm durchsuchen, aber erstmal lässt sie sich Kuchen und Kakao schmecken. Unter dem Teller, auf dem der Apfelkuchen ist, liegt ein Zettel. „Komm wieder, so oft du magst, meine kleine Drossel.“, steht darauf geschrieben. Sie erkennt sofort die Handschrift ihres Opas. Das Admiralchen, es wird doch wissen, wo Opa ist, denkt sie. Aber als sie in den Raum der Zinnsoldaten kommt, stehen diese da, wie Zinnsoldaten im Museum, bewegungslos. „Admiralchen? Wo ist mein Großvater?“, versucht sie es noch, aber das Admiralchen reagiert nicht. Sie läuft weiter ins Treppenhaus, versucht in ein anderes Zimmer zu kommen, aber es ist verschlossen. Die Gemälde! Flink rennt sie die Treppen hinunter und stoppt auf der Höhe der zwei Gemälde. „Sie, verehrte Herrschaften? Können Sie mir helfen?“ Aber auch die beiden Portraits sind wie eingefroren. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Aber den Zettel hielt sie fest in ihrer Hand, las nochmal die Worte darauf. „Komm wieder, so oft du magst, meine kleine Drossel“. Sie lächelte. Wie lange war sie nur hier gewesen?

Sie öffnete langsam die Eingangstür. Draußen zwitscherten die Vögel, es dämmerte. Sie atmete einmal tief durch und trat aus der Tür. „Kein Mist, oder?“ Sie drehte sich um, das Pferd. Es hatte wieder gesprochen. „Nein, kein Mist.“ Sie lächelte. „Komm bald wieder!“ „Das werde ich.“ Und so ging sie mit einem Lächeln durch das Tor, die Schreiberstraße davon.

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