Fensterblick
Geschätzte Lesezeit: 6 Min
Geschrieben von Marie-Luise Eberhardt
„Ich würde hier den ganzen Tag am Fenster hängen.“ - eine Freundin zu Besuch
Natürlich mein Lieblingsplatz: die Fensterbank im Arbeitsraum mit Küche. Da ist das Beobachten am bequemsten und unauffällig hoch drein. Die wenigsten Menschen, meist Tourist*innen, die sich die Neuwerkkirche anschauen wollen, gucken mal nach oben und wenn, winke ich munter und sie winken zurück. Es freut mich zu sehen, dass jeden Tag bei Wind und Wetter so einige Menschen in diese atmosphärische Kirche strömen, die als einzige in Goslar seit ihrem Bau im 12. und 13. Jahrhundert architektonisch unverändert blieb. Der Blick auf die Kirche gibt mir Ruhe - Zeit zum Atmen und Besinnen. In den Morgenstunden, mit Abendrot, blauer Himmel, Schnee, Herbstfärbung, Regenwetter: ich kenne so viele Stimmungen, in denen die Kirche wirkt. Aber sie bleibt, so wie sie ist, sie scheint nur anders gefärbt.
Am Baum, ich meine es sei eine Esche, genau vor dem Fenster konnte ich auch schon oft Vögel beobachten, die kopfüber den Stamm herunter laufen, wieder hinauf fliegen oder ihr Futter in den Ritzen der Stadtmauer suchen. Neu für meinen Fensterblick ist, dass ich erstmal nur den hochgewachsenen Stamm sehe, um die Blätter beziehungsweise nun die leeren Äste zu sehen, muss ich nach oben gucken.
Vor der Kirche, hinter dem Toreingang der Stadtmauer, treffen auch jeden Tag die Menschen zusammen, die ihre Drogengeschäfte machen oder versorgt mit Alkohol in den Kirchpark gehen. Kaputte Gestalten, die eine schwere Phase in ihrem Leben durchmachen oder es nicht mehr schaffen die Sucht zu durchbrechen, neu anzufangen. Nicht selten wird es laut, gibt Auseinandersetzungen. In den ersten Tagen hatte ich damit so meine Probleme, nicht wirklich Probleme, sondern eher das Gefühl von Unwohlsein und diesem Treiben, was mich innerlich tangiert, ausgeliefert zu sein. Die Frage ist ja auch immer, wohin sollen diese Menschen sonst? Und außer, dass sie manchmal in ihren Augen unbemerkt Wasser lassen, haben sie mir nichts getan und immerhin können sie dort unter sich wohl eine Art Gemeinschaft spüren. Aus der Aufregung ist bei mir schnell Alltag geworden, ein Alltag, der sie mich nicht vergessen, aber ja mit ihnen leben lässt.
Auf der anderen Seite des Raumes zum Achtermann zu ist da noch mehr los. Erst am Wochenende tummelten sich die Gruppen, teilweise mit Sternen oder Weihnachtsbäumchen auf dem Kopf zwischen den Botero Figuren – Fototime. Es ist selten, dass ich mal keine Person zwischen oder vor diesen Kaiserring-Wahrzeichen sehe. Und ich geb ja gern zu, dass ich auch schon so einige nahe Menschen davor fotografiert habe.
Hier kommt auch oft die Jugend Goslars lang, in der Nacht teilweise grölend, euphorisiert in Gruppen. Der Platz vor dem ehemaligen Kloster Neuwerk ist ein beliebter Ort zum Abhängen.
Autos bleiben kurz stehen, Menschen steigen ein und aus. Gehen ihren Weg.
Neben meinem Nachbarn auf den Heizgittern an der Ecke, den ich natürlich nicht ständig anglotzen möchte, aber es dann doch jeden Tag tue, habe ich auch schon von einigen Protestaktionen vom Fenster mitbekommen.
Von einer Neonazidemo mit gruseligen Kraftprotzen und pathetischer Musik, über die samstägliche Kundgebung von Querdenkern, deren auf Emotion getrimmte Songs auch bei geschlossenen Fenstern bei mir zu hören sind, bis hin zu sinnvollem Protest wie vor ein paar Wochen die Menschenkette organisiert vom Landvolk anlässlich der Versammlung der Umweltminister*innen im Achtermann.
Was gibt es noch zu berichten? Ohja am 11.11. hörte ich im Schlafzimmer Musik, die ich nicht einschätzen konnte. Ich sah aus einem der vielen Fenster und da tummelten sich ein paar Jeck*innen vor Karnevalsbeginn und stiegen schließlich in die Goslarbahn, die sonst für Stadtrundfahrten genutzt wird und die Mauerstraße und am Achtermann lang fährt.
Straßenmusik, gerade das lateinamerikanische Paar mit Gitarre und Gesang, gab es auch an einigen Tagen zu hören. Ich mag ihre Musik, nur schade, dass sie einen Song in Dauerschleife spielen, das geht dann doch mit der Zeit auf die Nerven. Vor allem letzte Woche, wo sie gut drei Stunden bei der Kälte auch noch ohne Pause gespielt haben.
Die Blickposition von oben verschafft mir eine Vogelperspektive – lässt mit Distanz das Geschehen betrachten. Nicht Teil des Geschehens sein.
Eine ungewohnte Perspektive für mich, die gern mit den Menschen auf gleicher Höhe spricht und nicht nur ihre Handlungen, ihre Hülle beobachtet - mit Fensterblick.
In diesem meinem Schlafzimmer schaue ich zum Beobachten kaum aus dem Fenster. Dafür immer wenn es klingelt und ich gucke, wer unten an der Haustür steht. In den ersten Wochen war das vermehrt der Fall, weil so einige Menschen von mir eine Essensmarke haben wollten und nicht immer verstanden, dass ich dafür gar nicht zuständig bin. Immerhin konnte ich sie an die Ausschilderung am Eingang verweisen, wo die Termine und Uhrzeiten einzusehen sind.
Mittlerweile steht meist Besuch vor der Tür und ich drücke auf den Aufmachknopf der Gegensprechanlage. So verbindet sich wieder das Draußen mit dem Drinnen.